Genuary Tipp 24/31 2022

Jillian Dowding AKA JJ Wilde aus Kanada

Frisch, unverbraucht, Sinn für Melodien. JJ Wildes Musik würde ich als rockigen Schiefpop bezeichnen (zum Thema „ausgedachte Genres“ siehe auch Felix‘ Tipp 13/31). Mit Schiefpop meine ich, dass die Songs durchaus Pop-Merkmale aufweisen, aber das Songwriting dank raffinierten, sperrigen, ja, „unpopulären“ musikalischen Finessen den Stempel „klassisch-kitschiger Pop“ locker umgehen kann. Für Rock ist es aber auf Streckie nicht hart genug. Schiefpop eben. Soundbeispiel:

Doch am Ende des Tages ist es natürlich ganz egal, wie man das Kind nennt. Hängen bleibt bei mir, dass ich gerne zuhöre. Und nicht nur ich. Ihr Debütalbum Ruthless aus 2020 ist im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichnet. Es war ein weiter Weg zum „best Rock Album of the year“ (Rock? Die Juno Awards für kanadische Musiker*Innen haben wohl noch nie etwas von Schiefpop gehört). Vor gar nicht langer Zeit hatte die heute 29-Jährige noch drei Jobs gleichzeitig und schrieb in den Pausen ununterbrochen Songs, die zum Teil auf der 2019 erschienenen EP Wilde eyes, steady hands zu hören sind, ebenso wie auch auf Ruthless. Wired ist einer davon:

Apropos Songs schreiben: Dass JJ Wilde auf den zweiten Blick mit Frederik Thaee eigentlich ein heimliches Duo ist – der Däne schreibt mit Dowding die Songs und ist auf Ruthless auch als Backgroundsänger, Gitarrist und Bassist zu hören – sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Für die Beurteilung der Musik macht das aber erstmal keinen Unterschied. Auf Ruthless sind alle Songs von Thaee und Dowding als Team geschrieben (zwei Songs zudem mit Victoria Hansen und einer mit Tom Peyton).

Im letzten Jahr schob JJ Wilde dann gleich wieder was nach – und zwar die wunderbar flowende EP Wilde. Sie selbst beschreibt die sechs Tracks als „Wohlfühl- und Spaßsongs“. Ja, das passt schon. Trotzdem, ich nenne es weiterhin voller Respekt Schiefpop. Und auch die Coverversion von Tom Pettys Stop draggin‘ my hear around im Duett mit Brett Emmons von den Glorious Sons ist sehr gelungen.

Instragram: JJ Wilde
Ihre Musik gibt es hier.

Genuary Tipp 22/31 2022

Fatoumata Diawara (Elfenbeinküste / Mali)

Wer unser Dreckiges Dutzend Best of Multisingual gehört oder unseren Genuary Tipp 30/31 2021 gelesen hat, weiß, dass ich eine Schwäche für Afrikanische Musik habe. Damals sprach ich über den fantastischen Oliver Mtukudzi und schrieb über Sampa the Great. Heute möchte ich euch Fatoumata Diawara vorstellen. Zunächst lassen wir sie für sich selbst sprechen bzw. singen:

Doch nicht nur durch ihre Musik passt Diawara perfekt in unseren Genuary. Als überzeugte Feministin kämpft sie für die Rechte von Frauen und Mädchen in (West)afrika. An dieser Stelle sehr zu empfehlen ist der Podcast Hear my Voice über Musikerinnen und ihre Geschichten, auch Fatoumata Diawara wird porträtiert. Marlene Küster leistet hier tolle und wichtige Arbeit, bitte anhören.

Was mich neben der Musik und dem Aktivismus begeistert sind die Texte, die ich, zugegeben, natürlich nicht verstehe, weil hauptsächlich auf Bambara – und das ist bei mir etwas eingerostet… Doch es lebe das Internet! Hier könnt ihr exemplarisch den Text zum Song Boloko nachlesen und seine Wichtigkeit erkennen:

They cut the flower that made me a woman
Don’t cut the flower that makes me a woman
If you circumcise girls You will make their intimate moments difficult
They will always have health problems
I beg you mother, don’t make them circumcise me, it hurts so much!
I beg you father,don’t make them circumcise me, it hurts so much! 
They cut it…Mother, stop female circumcision! If you circumcise girls You will make their intimate moments difficult. They will always have problems with childbirth

They will always have health problems
It hurts so much! It hurts so much! It hurts so much! Don’t circumcise girls!
It hurts so much! It hurts so much! 

African women live through too much hell. African women live through too much suffering. It hurts so much! We should look again at our ancestral beliefs and assess them.

It hurts so much! Keep what is good for us, and reject all that harms us.
It hurts so much! African women live through too much hell.
African women live through too much suffering.
It hurts so much!It hurts so much!It hurts so much! Mother…

Todernste und sehr wichtige Themen verpackt in leichte Afrikanische Klänge – eine für uns Europäer ungewohnte, aber nicht minder beachtenswerte Mischung. Diawara – eine tolle Musikerin, ein bemerkenswerter Mensch.

Instagram: Fatoumata Diawara

Genuary Tipp 20/31 2022

Ninet Tayeb aus Israel (heute Los Angeles)

Aufmerksam wurde ich auf die israelische Musikerin und Sängerin dank Steven Wilson. Auf dessen Soloalbum Hand.Cannot.Erase (2015) ist die epische Ballade Routine erschienen. Und neben Wilson singt hier eben jene Ninet Tayeb auf unnachahmliche Weise. Unbedingt hier anhören – musikalisches Champions League K.O.-Runden Niveau. Und auch das Video ist fantastisch. Wer da nicht schluckt, ist ein Roboter. Auch Pariah, ein weiteres Duett der beiden, ist wirklich sehr zu empfehlen.

Aber weg von Wilsons Musik. Ninet, wie sie sich als Solokünsterlin schlicht nennt, wurde einem größeren Publikum in Israel durch eine Telenovela bekannt. Ihre ersten Versuche als Musikerin folgten und waren beachtlich. Sie sang zunächst hauptsächlich auf hebräisch, gewann eine Castingshow. Ninet ist an der Gitarre zuhause und schreibt ihre Songs höchstselbst. Auch heute noch wechselt sie wie es ihr beliebt zwischen hebräischer und englischer Sprache. Das letzte Album – Paper Parachute (2017) – war komplett auf Englisch. Hier der titelgebende Song – live interpretiert von Ninet und Band -, einfach wunderbar verträumt, immer mehr Dynamik und Gänsehaut entwickelnd (die „Hold-on“-Passage ab 2:10 Minuten kickt mich jedes mal):

Die Scheibe ist wirklich bemerkenswert. Musikalisch vorwärts rockend auf der einen Seite, aber auch zartschmelzend wie warme Schokolade auf der anderen Seite. Dazu eine wohl dosierte Prise orientalische Wurzeln. Großartig im wahrsten Sinne: GROßE ART!

Instagram: Ninet Tayeb
Ihre Musik gibt es hier – Leider ist die Vinyl-Version des Albums aktuell ausverkauft – Zweitmarkt ab 90 Euro.

Genuary Tipp 18/31 2022

Press Club mit Natalie Foster aus Melbourne, Australien

An der Genuary Liste 2021 knapp vorbeigeschlittert, ist dieses mal ein Platz für die Band um Natalie Foster fest eingeplant.

Aus der Vorgängerband Tully On Tully entstanden, schrieb das Quartett im Haus des Bassisten zum Einstieg damals über 50 Songs in gefühltem Zeitraffer. „Wir kamen in einem Raum zusammen, jammten und überlegten, was dabei herauskommen sollte“, erklärt Foster in einem Interview. „Es stellte sich heraus, dass es Punkmusik war.“ Ja, manchmal findet die Musik dich und nicht andersherum.

Aus dieser Art der Kambrischen Explosion entstanden mittelfristig zwei LPs: Das Debüt Late Teens (2018) mit meinem persönlichen Lieblingssong Suburbia (s.u.) und Wasted Energy (2019). Beide Alben bestechen durch kurzweilige, schnelle Songs, die mich an Gute-Laune-Combos wie Blink182, in ihrer Melodiösität aber auch an die Japandroids erinnern. Diese Nummer hier ist exemplarisch:

In den letzen Jahren ist es etwas ruhiger geworden um die Australier. 2020 erschien auf einer limitierten B-Seiten- und Raritäten-Compilation des Visions Magazins lediglich ein einziger neuer Song: Insecurities. Wir dürfen gespannt sein, wann sich Foster und Co. mit neuem Material zurückmelden und dann vielleicht auch wieder nach Deutschland kommen. In Australien sind sie gerade wieder auf Tour. Denn ihre Musik lädt sehr dazu ein, live gespielt und vor allem gehört zu werden.

Instagram:
Press Club

Genuary Tipp 16/31 2022

Beth Hart aus Los Angeles, USA

Was braucht es, damit mir ein Musiker, eine Musikerin oder eine Band, erst einmal unabhängig vom Genre und vom eigenen Geschmack, gefällt? Heruntergebrochen auf die wichtigen Eigenschaften sind es Können, Authentizität und Leidenschaft. Beth Hart vereint all das in spielerischer Leichtigkeit. Was will man auch erwarten von einer Frau, die in dem Musical Love, Janis die Hauptrolle – also die legendäre Janis Joplin – verkörperte?

Seit Anfang der 90er aktiv, beweist sie auf ihrem aktuellen Album War in my mind (2019) einmal mehr ihr Talent als Geschichten erzählende Komponistin für starke Melodien und Emotionen. Dazu ihr Timbre mit dem unwiderstehlichen Vibrato:

Anastacia-Vibes?

Doch auch neben der Single War in my mind ist das Album eine unterhaltsame und vor allem kurzweilige Reise durch die melancholisch bluesigen Musikgefilde. Gleich der Opener Bad Woman Blues und später Sister Dear seien besonders hervorgehoben.

Wem das neue Album allerdings zu ruhig ist, muss Beth Hart nicht gleich den Rücken kehren. Ältere Werke könnten gefallen. Vielleicht das deutlich rockigere Album Immortal (1996). Besonders im Song Am I the one könnte man an eine Janis Reinkarnation denken. Ein bisschen scheint dieses Album auch für Anouks Debüt Together Alone (1997) Modell gestanden zu haben (Stichwort Nobody’s Wife). Hier der Titeltrack live perfomt – ich komme zurück auf die eingangs erwähnten Eigenschaften Authentizität und Leidenschaft (oder mit den Worten von Wayne Cowley: The difference between a musician and someone that can play music, is passion and emotion):

Ausflippen kann Beth auch, Rock n fucking Roll!

Instagram: Beth Hart