Self Publishing in der Musik

Von Felix

Ist heute eigentlich wirklich alles einfacher?

Die Digitalisierung hat in allen Lebensbereichen Einzug erhalten. Das hat natürlich zwei Seiten, im Kern geht es in diesem Beitrag um eine sehr positive Seite dieses Fortschritts. Musikerinnen, Musiker und Bands können vermehrt ihre Musik in Eigenregie produzieren und veröffentlichen. Allerdings birgt auch das Verfahren des Self-Publishings natürlich gewisse Risiken und es kommt zu Synergieeffekten, die die Vorteile zum Teil auch wieder relativieren oder ihnen zumindest gegenüberstehen.

„Der größte Vorteil für uns war, dass wir in unserem eigenen Tempo arbeiten konnten und so auch die Kontrolle über den Sound und das visuelle Drumherum wie Artwork und Videos behalten konnten. Das ist aber Vorteil und Nachteil zugleich. Die Freiheit, alles selbst zu machen und zu experimentieren nimmt auf der einen Seite viel Druck raus, aber der zeitliche Aufwand ist bei einer zweiköpfigen Band dann pro Person schon sehr hoch.“Paul und Tom (Wrong Chat)

Wir haben dazu unter anderem mit Wrong Chat und Alphatraz gesprochen, die kürzlich den Schritt des Self Publishings gewählt haben, sie zu ihren Erfahrungen befragt und um ein möglichst differenziertes Bild zu bekommen mit POLEDANCE, die ihre neue Platte über Label Thirty Something Records veröffentlichte . Für die ausführlichen Antworten bedanken wir uns herzlich und möchten euch im Zuge weiterer „Now Playings“ natürlich auch ihre Musik und Produkte vorstellen und ans Herz legen.

Eigentlich befinden wir uns schon seit Jahrzehnten in den laufenden Prozessen der Digitalisierung im Bereich der Musikproduktion und natürlich auch des Musizierens an sich. So richtig in Schwung kam die Digitalisierung bereits zu Beginn der 1980er Jahre, in welchen insbesondere MIDI kompatible Synthesizer und auch Mehrspur-Aufnahmegeräte günstiger produziert und verkauft werden konnten, im Laufe der achtziger Jahre wurden die Computer nicht nur beständig leistungsfähiger, sondern allmählich für Privathaushalte erschwinglich. Diese Entwicklungen setzen sich unaufhörlich fort und haben seit der Jahrtausendwende und der in Europa und den USA nahezu flächendeckenden Vernetzung der Menschen noch eine weitere nicht zu unterschätzende Komponente des Austausches gebracht. Dabei geht es auch um Wissenstransfer im Bereich Musik und Musiktechnologie. Möchte ich mir zu Hause ein eigenes kleines Studio einrichten, kann ich mich mit Gleichgesinnten und erfahrenen Produzenten austauschen und mir stundenlang Equipment-Tests und Tutorials ansehen. Ich kann als Musiker eigene Spuren oder ganze Stücke einspielen, Bands können aktuell nicht nur viel einfacher ihre eigene Musik mit Hilfe von Computern und verhältnismäßig günstigen Interfaces selber mischen und bearbeiten, sie müssen sich dazu noch nicht mal mehr regelmäßig räumlich treffen. Jedes Bandmitglied kann das Instrument zu Hause einspielen, über die Cloud werden dann alle Spuren zusammengetragen und am heimischen PC / Mac abschließend in Form gebracht. Die digitalen Dateien können dann auf Plattformen wie Bandcamp oder Soundcloud oder ähnlichen Portalen hochgeladen werden und stehen dort auch mittlerweile mit Kaufoption zur Verfügung. Wenn man einen Schritt weitergehen möchte, kann man über spezielle Hosts dafür sorgen, dass die Musik auch auf die großen Streaming Plattformen eingespeist wird.

„Songs über einen Dienst wie Recordjet, Distrokid o.Ä. auf allen wichtigen Streaming-Diensten zu veröffentlichen war natürlich ein Thema […]. Es ist ziemlich einfach zu handeln und das zu einem sehr überschaubaren Preis. Der Vorteil ist, dass je nach Modell alles in der Bandkasse landet. Für einige Künstler:innen wird das ein wichtiges Argument sein.“ – Daniel (POLEDANCE)

Hinzu kommt, dass es mittlerweile unabhängige Dienstleister für die Tonträgerproduktionen gibt, so dass man auch zur digitalen Variante physische Platten, CDs oder Kassetten produzieren lassen kann, um diese z. B. über einen eigenen Web-Shop und auf Konzerten zu verkaufen. Dies ist mittlerweile auch in geringen Stückzahlen möglich. Außerdem gibt es weitere online Shops, über die man eigene Ware verkaufen kann, natürlich auch Merchandise wie T-Shirts, Hoodies und viele weitere Produkte und zumindest in den Städten gibt es mittlerweile auch wieder gute Plattenläden, die für gute, zum Angebot passende Musik immer offen sind. Und klar ist ein ganz logischer Vorteil an dieser Herangehensweise das Geld, welches am Ende des Tages direkt in die Tasche der Bands, Künstlerinnen und Künstler wandert, denn je weniger Stationen am Verkauf beteiligt sind, desto mehr bleibt von der Gewinnspanne bei den Musikerinnen und Musikern selbst. So formuliert klingt das erstmal alles toll und mir liegt auch wenig daran, dies jetzt einfach aus Prinzip zu zerreden, darum würde ich zunächst gerne dieses Vorgehen in der Selbstproduktion aus der Perspektive der Band Wrong Chat unterstützen.

„Klar ist das ein guter Weg, um erstmal überhaupt mit eigener Mucke an den Start zu kommen. Der Aufwand, digital selbst zu veröffentlichen, ist ja relativ gering.“ – Paul und Tom (Wrong Chat)

Und welche Probleme kann diese Form der Veröffentlichung mit sich bringen?

Nun ja, zunächst scheint es doch erstmal ganz logisch: Ihr spielt in einer Band, ihr spielt gemeinsam Musik, also nehmt ihr sie auf und vertreibt sie, oder nicht?! Man wird als Band oder Künstlerin / Künstler recht schnell feststellen, dass die benötigten Fähigkeiten und Talente je nach eigenem Anspruch rasant zunehmen können. Es beginnt spätestens beim Mastering der Aufnahmen, eigentlich schon vorher bei den Aufnahmen selbst. Alles soll gut klingen, also sollte man auch besser wissen, welche Mikros, Kopfhörer, Mischpulte und Interfaces gut geeignet sind. Mit welcher Aufnahme-Technik (DAW) kenne ich mich aus? Ist der Raum überhaupt geeignet? Je professioneller die verwendeten Geräte und Programme sind, desto umfangreicher sind die Einstellungsmöglichkeiten und dadurch steigt auch die Gefahr gewisse Komponenten zu übersehen, die für gelernte Menschen, z.B. Audio-Engineers, zu den Standard-Handgriffen zählen.

Wer entwirft und gestaltet ein Artwork für die Platte bzw. für das Merch? Wer übernimmt die Promotion? Gibt es ausreichend Kontakte oder sogar ein gut funktionierendes Netzwerk, z.B. auch für Pressefotos etc.? Sind Auskopplungen und ggf. Videos dazu in Planung? Wer dreht und schneidet die Videos? Wer plant und organisiert im Anschluss Auftritte oder sogar eine ganze Tour? Natürlich benötigt man zusätzlich eine halbwegs vernünftige Buchhaltung, um zu sehen, ob am Ende wenigstens die schwarze 0 steht.

„Ich hatte ein tolles Team an meiner Seite, alleine hätte ich es nicht geschafft. Meine Frau hilft bei vielem, Collapse of Art haben das Artwork gemacht. Das Alphatraz-Logo ist von Jordan Barlow, das Mastering machte Freio vom Big Easy Studio. Alles hat sich toll zusammengefügt und ich bin sehr dankbar für meine helfenden Hände.“ – Christoph Martin (Alphatraz)

All diese Aufgaben gehören zu einer gelingenden Veröffentlichung sicher dazu. Wenn man in einer Band mit mehreren Mitgliedern und einem engen Kreis aus Freunden und Familie einige dieser Aufgaben stemmen kann, ist das sicher glücklich, wird jedoch auch nicht alle Jahre wieder aufs Neue funktionieren, so dass einige Bands heutzutage die Mühen für erste Auskopplungen nicht scheuen, für weitere Veröffentlichungen nach ersten kleineren Erfolgen jedoch gerne auf Labels zurückgreifen, die einem in der Regel viele der oben genannten Anforderungen abnehmen oder vermitteln können.

„Wer denkt, dass es noch ausreicht, gute Songs zu schreiben, ist entweder in einer Zeit groß geworden, in der das noch genug war, oder hat wenig Erfahrung. […] Neben einer Vision, wo man die eigene Band in ein paar Jahren sieht, sind vor allem die Kontakte und das Netzwerk ausschlaggebend. […] Im Endeffekt habe ich im Laufe der Jahre gelernt, dass eine Band nichts anderes als eine kleine Firma ist, die auch ähnlich gemanaged wird.“ – Daniel Pfeiffer (POLEDANCE)

Ähnlich formuliert es Christoph Martin (Alphatraz): „Als Musiker muss man heutzutage Unternehmerfähigkeiten haben. Wenn du als Musiker erfolgreich sein willst, musst du dich vermarkten.“

Klar ist natürlich auch, je mehr Außenstehende ich engagieren muss, desto weniger bleibt mir am Ende von meinen Einnahmen. Auch hier bietet uns die Digitalisierung wieder einige Hilfe: via Tutorials, Webinaren oder Online-Fortbildungen, Zugriff auf Datenbanken, fleißiger Recherche usw. kann man sich heutzutage viele der Fähigkeiten autodidaktisch aneignen. Das ersetzt natürlich keine Ausbildung, es kann aber den eigenen Ansprüchen z.B. an Sound oder Corporate Design genügen, die rechtliche Stellung ausreichend absichern oder reichen, um die Gage zufriedenstellend auszuhandeln.

Gängigste Varianten um digital Reichweite zu kreieren sind im Jahr 2023 selbstverständlich vor allem die Social Media Plattformen. Über Instagram, Tik Tok und Facebook erreiche ich schnell meine Fans, kann Neuigkeiten (grundsätzlich) ohne Kosten verkünden, neue Songs anteasern, Live-Videos posten, Tickets bzw. im allgemeinen Shops verlinken usw. Allerdings zeigt sich auch hier eine klare Kehrseite: „Experten“ raten dazu, selbst bei einer Anzahl von etwa 1000 Followern ein bis zwei Posts pro Tag abzusetzen, bei etwa sechsstelligen Followerzahlen sollten es mindestens drei pro Tag sein. Das stresst, zumal die Erwartungshaltung bei Kommunikationen über diese Plattformen recht hoch sind. Das heißt, es kommen regelmäßig Verlinkungen, Mentions, Nachrichten, Anfragen usw., gekoppelt mit der Erwartung einer Reaktion. Social Media bleibt bei Künstlerinnen und Künstlern ein ambivalentes Thema. Da sind sich die von uns Befragten sehr einig:

„Ich finde es sehr belastend, dass man sich täglich Content aus den Fingern saugen muss, weil man sonst aus dem Algorithmus fliegt. […] Gleichzeitig ist es unumgänglich, wenn man seine Hörer:innenschaft ausbauen will.“ – Daniel (POLEDANCE)

„Generell sind wir eher abgeneigt von solchen Plattformen, aber verstehen auch, dass es leider nicht anders funktioniert. [Wir] investieren lieber unsere Zeit in Musik machen. Einen Service, den wir dagegen ganz toll und fair finden, ist Bandcamp.“ – Tom und Paul (Wrong Chat)

„Manchmal muss ich meine Tochter fragen. Ich habe sehr schnell gemerkt, wie wichtig diese Plattformen sind. Es ist doch toll, dass man Feedback bekommt und sich mit Menschen aus der ganzen Welt austauschen kann. Ohne diese Plattformen gäbe es das Projekt Alphatraz nicht.“ – Christoph (Alphatraz)

Von meiner Seite aus – als Nutzer oder Konsument – kann ich ergänzen, dass diese Entwicklung mir ebenfalls nicht ausschließlich Anlass zur großen Freude bringt, allerdings auch nicht dafür sorgt, dass ich mir irgendeine angeblich gute alte Zeit zurückwünsche. Ich freue mich über die Geschwindigkeit mit der ich Zugriff auf neue (und alte) Musik habe, die unkomplizierten Kommunikationswege, um mit Labels und Promo-Agenturen in den Austausch zu kommen. Allerdings vermisse ich tatsächlich im Allgemeinen die Wertschätzung für physische Tonträger und den noch aktiveren Austausch im direkten sozialen Kontakt z.B. bei Gesprächen am Vorhör-Tresen in Plattenläden. Es ist allerdings auch sehr wahrscheinlich, dass es ohne den technischen Fortschritt und die Digitalisierung den Wellenbrecherbereich gar nicht geben würde und das wäre ja nun wirklich sehr schade.

Bleibt aufmerksam, denn die netten Menschen, die hier bereits auszugsweise zitiert wurden, werden wir euch hier in Kürze etwas genauer vorstellen. Damit ihr schon mal reinhören könnt, hier ein paar direkte Links zur Musik von Alphatraz, POLEDANCE und Wrong Chat, die ihr allesamt beim bereits angesprochenen Dienst Bandcamp finden könnt und dazugehörige Video-Links. Weiter unten findet ihr noch zwei Quellen und Lese-Empfehlungen über dieses Thema.

Quellen und Empfehlungen zur Thematik:

Hviid, Morten; Jacques, Sabine; Izquierdo Sanchez, Sofia: Digitalisation and intermediaries in the Music Industry, CREATe Working Paper 2017/07

Holger Schwetter: Teilen – und dann? Kostenlose Musikdistribution, Selbstmanagement und Urheberrecht, Kassel: University Press, 2015

Ghosting Sibyl Vane – Estländische Postpunkband nimmt Rache

Alex‘ Liederatur Solo Teil 2 (Teil 1 hier)

Helena Randlaht gibt Gas

Eines meiner absoluten Lieblingszitate stammt vom britischen Schriftsteller Oscar Wilde und wurde selbstredend in unserem Podcast bereits fallengelassen:
„Mit 90% aller Menschen nicht übereinzustimmen, ist eines der wichtigsten Anzeichen für geistige Gesundheit.“
Und nein, diese Aussage soll nicht als Freifahrtschein für Querdenker und Verschwörungstheoretiker verstanden werden, sondern als ein Appell gegen stumpfes Schwarmverhalten. „Das machen doch alle so!“ „Das haben wir immer schon so gemacht!“ Nun kam mir vor Kurzem Wildes Roman in die Finger, den ich immer schon mal lesen wollte:

Inhalt
Da wir hier nun kein Literatur-, sondern ein Musikblog sind, fasse ich mich bei der Inhaltsangabe kurz: Wir sind im London des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Die Handlung dreht sich – wie der Name schon sagt – um einen jungen, gut aussehenden Dandy namens Dorian Gray, der sich von seinem Freund Basil Hallward malen lässt. Es wird dessen bestes Werk. Während der Sitzungen lernt Gray einen weiteren Freund Hallwards kennen: Lord Henry Wotton. Dieser ist über alle Maßen zynisch und hat ein fragwürdiges Menschenbild. Er wird im Laufe des Buchs mehr und mehr Grays “Souffleur“. Seine Charakterzüge verändern sich zum Schlechten. Gray wird hartherzig und kalt.

Die Eskapaden nehmen sukzessive immer groteskere Formen an (inkl. Leichenbeseitigung im Stile von Breaking Bad; hat Vince Gilligan auch das Buch gelesen?). Jedoch stellt Gray zu seiner großen Verwunderung fest, dass sein im Scherz ausgesprochener Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Er selbst bleibt trotz aller Fehltritte jugendhaft und schön, während das gemalte Porträt stattseiner altert. Zudem manifestieren sich sämtliche Charakterschwächen im dem Bildnis auf grausame Weise. Wir verflogen voller Verärgerung wie sich Dorian Gray immer wieder mit mehr Glück als Verstand ungeschoren aus den unangenehmsten Situationen herauslaviert – bis zum großen Finale!

Es ist absolut bemerkenswert, wie hoch die Dichte an zitierwürdigen Sätzen in diesem Buch ist. Die Dialoge sind messerscharf und meist vor Zynismus triefend (wie gesagt: Lord Henry). Am bekanntesten ist sicherlich der Ausspruch Lord Henrys in Kapitel 4, weniger zynisch: „Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert“ (das war offenbar schon Ende des 19. Jahrhunderts der Fall!) . Aber da wären auch weitere Bonmots, die ich als Schmankerl ans Ende des Artikels gepackt habe.

Die Parallele zur Musik
Josef K., Muff Potter (lese auch hier), The Boo Radleys, Veruca Salt… – wie ich bereits in meinem ersten Artikel zum Thema „Musik in der Literatur“ geschrieben habe, gibt es unzählige Bands, die nach Buchcharakteren benannt wurden. So auch bei Dorian Gray: Die Rockband aus den 80ern kam aus dem damaligen Jugoslawien und erlangte einige Bekanntheit durch ihren extravaganten Stil.

Viel interessanter fand ich bei meiner Recherche allerdings eine andere brandaktuelle Band, die schon als Support für Garbage und Placebo spielte und die den Namen des heimlichen Stars des Buches ehrt: Sibyl Vane! In Wildes Geschichte ist sie eine junge, unschuldig reine Schauspielerin, der Dorian Gray verfallen ist. Immer wieder geht er ins Theater, nur um sie spielen zu sehen. Schließlich wollen die beiden, trotz Warnungen von Sibyls Bruder, heiraten. Bevor es dazu kommt, fühlt sich Gray, der schon unter dem Einfluss Lord Henrys steht, absurderweise von ihr gedemütigt und er verlässt sie auf brutale Art und Weise, was weitere Tragödien auslöst (keine Spoiler!).

Nun hat sich die junge Postpunk-Band aus dem Estländischen Pernau den Namen der Schauspielerin nicht „einfach nur so“ gegeben, um vielleicht besonders bedeutungsvoll zu wirken. Wie Sängerin und Gitarristin Helena Randlaht dem Wellenbrecherbereich unlängst verriet, gab es vielschichtige Gründe:

„First we really liked the idea of a band name that is named after a real person or a character and second is that The Picture of Dorian Gray is one of our favorite books. Name Sibyl Vane sounded really exotic for us and also represented that fourth band mate (really there are 3 of us) – with Sibyl Vane there are two men [Kristo Otter: Drums, Heiko Leesment: Bass] and two women in a band – one is fictional … but still.“
Helena Randlaht im Austausch mit dem Wellenbrecherbereich

Und selbst wenn der letzte Grund etwas zum Schmunzeln anregt, so hat die Parität, die Gleichberechtigung, die hier mitschwingt, einen ernsten (Hinter)grund:

„I think we strive for that tragic female character vibes from The Picture of Dorian Gray and what it is like to be a woman in this world. And we carry that sadness and injustice into our lyrics. But we also get inspired by other authors and books as well like The God of Small Things by Arundhati Roy, The Girls by Emma Cline, The Collector by John Fowles etc.“
Helena Randlaht im Austausch mit dem Wellenbrecherbereich

Kampf gegen verkrustete Strukturen
Über strukturelle Gewalt gegen Frauen in männerzentrierten Gesellschaftsstrukturen muss und soll zwar auch vor der eigenen Haustür gekehrt werden – sprich bei uns in Deutschland – Themen wie Gender Pay Gap, berufliche (Aufstiegs)Chancen, veraltete Rollenbilder und Verhaltensannahmen seien zu nennen. Doch die Band richtet ihren Blick vor allem auf die baltische Heimat, in der die systematische Unterdrückung von Frauen noch deutlich dramatischer und gewalttätiger zu spüren ist. Natürlich muss man gerade heute unweigerlich auch an die mutigen Mädchen und Frauen im Iran denken. Sibyl Vane dient als Mahnmal gegen antiquierte Machtstrukturen und Denkmuster, die es beharrlich aufzubrechen gilt („das haben wir immer schon so gemacht!“).

Somit wäre Helena Randlaht samt Band natürlich die perfekte Wahl auch für unseren Genuary gewesen. Doch es musste erst Oscar Wilde um die Ecke kommen, der mich auf diese Band brachte. Anfang 2022 trat Sibyl Vane bei der Botik Live Session auf und gab ein Online-Konzert zur Unterstützung des “Pärnu Women’s Support Centre“:

hier mit Gast-Gitarrist

Postpunk trifft Indieblues
Im letzten Jahr haben Sibyl Vane ihr Debütalbum Love, Holy Water and TV zum 10-jährigen Jubiläum neu aufgelegt – erstmals auch auf Vinyl. Und während uns sowohl jenes Album, als auch der selftitled Nachfolger musikalisch eine amtliche Portion Härte entgegenschleudert und gesanglich an eine junge Gwen Stefani erinnern lässt,

geht die Band seit dem Drittling Duchess (Herzogin) in die popbluesige Ecke mit Indieeinflüssen. Dabei fühlt sich Randlahts Stimme in beiden Gefilden zuhause. Von der Bruststimme zur Kopfstimme: Die Vorabsingle zum Album, das 2020 für das Album of the Year bei den Estonian Music Awards nominiert war, ließ erahnen, wohin die Reise künftig geht (Vorsicht, Ohrwurmgefahr!):

Derzeit, so verriet uns Randlaht, wird eifrig an neuem Material gewerkelt. Die aktuelle Single Hertsoginna (auch Herzogin!) – aufgenommen zusammen mit der Musikerin Kaisa Ling Thing wurde passend zum Weltfrauentag am 8. März veröffentlicht. Gesungen wird zur Abwechslung auf Estnisch, über der Musik flirrt dezent baltischer Charme. Auf ein neues Album bin ich gespannt.

Kontakt Instagram / Bandcamp

Die letzten Worte aber sollen Sibyl Vane selbst gehören, wenn sie im Buch offenbart:

The painted scenes were my world. I knew nothing but shadows and I thought them real. […] Tonight, for the first time in my life, I saw through the hollowness, the sham, the silliness of the empty pageant in which I had always played.
Sibyl Vane

Einige Zitate aus Das Bildnis des Dorian Gray
„Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist ihr nachzugeben.“
„Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten.“
„[Auf dem Lande] steht man so früh auf, weil man so viel zu tun hat, und legt sich so früh zu Bett, weil man so wenig zu denken hat.“
„Ich wähle meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem Charakter und meine Feinde nach ihrem Verstand.“
„Die Frauen, hat einmal ein witziger Franzose gesagt, regen uns an, Meisterwerke zu schaffen, und hindern uns immer daran, sie auszuführen.“
„Jemanden zu beeinflussen bedeutet, ihm eine fremde Seele zu geben.“
„Anfangs lieben Kinder ihre Eltern; wenn sie älter werden, halten sie Gericht über sie; manchmal verzeihen sie ihnen.“
„Genie währt länger als Schönheit.“

Kind Kaputt – Morgen ist auch noch kein Tag (2022)

Wir ertappen uns oft bei dem Gedanken:
“Ist eh alles egal, die Welt wird sowieso untergehen
Johannes im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

von Felix

Bevor wir zu der Albumbesprechung kommen, müssen wir einmal mehr unser Bedauern darüber äußern, dass das im November angesetzte Konzert in Bremen leider abgesagt werden musste. Grund dafür war der schlechte Kartenvorverkauf. Diese leider mittlerweile gehäuft auftretenden Absagen sind für die Bands oder Künstlerinnen und Künstler, die Fans und die Veranstaltenden gleichermaßen mies. Gut für Kind Kaputt, dass es der einzige Termin der Tour war, der abgesagt werden musste, schlecht für uns, da wir für diesen Termin eigentlich ein persönliches Interview mit der Band führen wollten.

Daher bedanken wir uns ganz herzlich bei der Band und ihrem Tourmanagement, die sich kurzerhand die Mühe machten, unsere Fragen dann eben schriftlich zu beantworten. Merci!
So könnt ihr das komplette, ausführliche Interview mit Sänger und Gitarrist Johannes Prautzsch parallel zur Albumrezension auf unserem Blog lesen (klicke hier oder auf das Bild).

Drei Jahre nach dem Album Zerfall erschien im Oktober 2022 endlich eine neue Kind Kaputt-Platte. Morgen ist auch noch kein Tag kam wie der Vorgänger bei Uncle M, natürlich auch wieder in einer hübschen Vinylversion heraus. Das Artwork des Albumcovers (von Fabian Simon) zeigt genau, worum es auf der Platte geht: Kein Mensch würde sich auf eine Schaukel setzen, die einen offenkundig an die Wand klatschen ließe und trotzdem handeln wir beinah täglich achselzuckend ähnlich (selbst-)zerstörerisch. Anlass genug den Finger in die Wunde zu legen und das können Kind Kaputt ausgesprochen gut.

Es ging und geht uns nie darum, Musik für andere zu schreiben. Alles was wir machen,
tun wir, weil es uns selbst etwas bedeutet.
Johannes im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Die Lieder des zweiten Albums sind eine Mischung aus Kritik an Konsum, der individuellen, ewig rastlosen Glücksjagd und Selbstoptimierung und der Leichtgläubigkeit, die zuletzt z.B. diverse Verschwörungstheorien beflügelt hat. Die Platte lässt einen wenig hoffnungsvoll zurück. Mich hat sie aber genau aus diesem Grund auch sehr zufrieden zurückgelassen, denn Sänger Johannes findet häufig überzeugende Worte über Situationen, denen ich zum Teil nur noch kopfschüttelnd gegenüberstehe. Diese Texte sind auf dem neuen Album weit überwiegend eingebunden in hervorragend darauf abgestimmte Melodien.

Der Text entsteht dann meistens nachdem wir eine grobe instrumentale Skizze des Songs haben. Oft haben wir beim Schreiben des Instrumentals schon ein Thema oder einen Satz, der in eine bestimmte Richtung weist.
Johannes im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Dabei ist der Text zwar anklagend, aber auch selbstkritisch und nicht bloß mit dem Finger zeigend verfasst und die Musik in Rhythmus und Härte absolut treffend – so entstanden zwölf Songs zwischen Traurigkeit, Wut und Fassungslosigkeit, zu denen man sich trotzdem gerne mit anderen Menschen im Kreis drehen möchte.

Schauen wir also nochmal etwas genauer auf Einzelheiten des Albums. Schon das erste Quartal bestehend aus den Liedern Anfang und Ende, Glücklich Sein und Kenntnisstand hat mich voll überzeugt. Musikalisch abwechselnd – mal etwas poppiger, dann aber auch wieder etwas brachialer und stellenweise mit Textzeilen zum Einrahmen: „Ich möchte nichts mehr brauchen / Ich hab‘ doch schon so viel / Nur irgendetwas kaufen / Fürs gute Gefühl“

Mit CH20 befindet sich auch eine schöne Ballade auf der Platte, die sich mit dem Wunsch besondere, glückliche Momente oder Umstände konservieren zu wollen. Ein Gefühl, das vermutlich jeder schon mal kennengelernt hat, aber die Zeit läuft halt einfach weiter „und die Sonne scheint“, wie es dann nur ein Lied weiter im Song Wartezimmer heißt. Ein Song, der mich irgendwie besonders berührt, da er auf bewegende Art eine hoffnungslose Sprache spricht und musikalisch sehr dicht und intensiv ist.

Zwei Songs, die ein wenig aus dem musikalischen Raster fallen und trotzdem mit zu meinen Favoriten zählen, sind das Schlusslied In Frieden und der Titel Stolpern. Wobei das nicht ganz korrekt ist, In Frieden ist musikalisch durchaus gängiger Kind Kaputt Sound, fällt aber durch einen ungewöhnlichen Sprechgesang auf, bei dem lediglich ein Wort pro Takt in den Ring geworfen wird. Stolpern hingegen erinnert eher an einen OK Kid Song (was ja nicht schlimm, aber eben etwas ungewöhnlich ist). Hier gibt es einen Sprechgesangs-Part mit Auto-Tune-Anteilen und Drum-Computer und sehr reduzierter, aber sich dramatisch steigernder Melodie mit einem prägenden Bass im Chorus. Auch der Sprechgesang steigert sich im Verlauf des Songs, der meiner Interpretation nach die Gedankenwelt psychisch Erkrankter bzw. auch die Gefährdung des Abrutschens thematisiert und von dem ich jedes mal beim Hören denke, dass dieses Lied verdammt nochmal bei weitem mehr Aufmerksamkeit bekommen müsste!

Eigentlich könnte man beliebig so weiter machen, da sich in jedem Song gute Textzeilen finden und je nach eigener Stimmung findet man auch musikalisch, in den hier jetzt nicht explizit genannten Stücken geile Passagen, da es durchgehend facettenreich, aber nie aufdringlich zur Sache geht. Manchmal – das sei als Kritik noch angefügt – ist es für mich in Bezug auf die Härte etwas zu vorsichtig und könnte gelegentlich noch etwas stärker reinknallen. Ich könnte mir vorstellen, dass das auf der jetzt in Kürze noch startenden gemeinsamen Tour mit Smile and Burn auf der Bühne durchaus der Fall ist. Geht auf jeden Fall hin, denn:

Die Szene [ist] verglichen mit anderen Genres sehr klein und deshalb fällt es jetzt umso mehr auf, wenn die Leute zu Hause bleiben und die Clubs leer sind. 
Johannes im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Für mich insbesondere aufgrund der oft großartigen Texte ein starkes Album von einer dazu noch sehr sympathischen Band, welches sich bei uns 8 von 10 Wellenbrechern verdient.

Interview mit Johannes Prautzsch von Kind Kaputt

Wir waren verabredet mit den Jungs von Kind Kaputt, um vor ihrer Show in Bremen ein Interview zu führen. Leider fiel das Konzert aus (mehr dazu in der Albumrezension zu Kind Kaputts Zweitling Morgen Ist Auch Noch Kein Tag; klicke hier). Nun hat sich Sänger, Texter und Gitarrist Johannes Prautzsch dankenswerterweise die Zeit genommen und unsere Fragen in schriftlicher Form beantwortet. Hier also unser Interview, nicht wie gewohnt im gesprochenen, sondern im geschriebenen Wort. Viel Spaß!

Wellenbrecherbereich: Am 21.10. erschien euer inzwischen zweites Album Morgen ist auch noch kein Tag. Wie kam es zu diesem Titel? Und wie zum Albumcover mit der leeren Schaukel? Ein Verweis auf künftige Generationen, deren Zukunft (Morgen) gerade auf der Kippe steht (kein Tag)?

Johannes (Prautzsch): Das Album hat eine gewisse Ambivalenz zwischen hoffnungsvoll und Resignation. Auf der einen Seite sind da Songs wie “Gegen dich” oder “Gut gemeint“, die einen fast schon versöhnlichen Vibe haben. Auf der anderen Seite besitzen viele Songs einen bitteren Beigeschmack oder haben einen fast nihilistischen Unterton. Wir wollten mit Albumtitel und Artwork gerne beides in Einklang bringen. Deshalb “Morgen ist auch noch kein Tag” und das Bild mit der Schaukel. Auch mit dem Verweis auf künftige Generationen liegst du richtig. Wir ertappen uns oft bei dem Gedanken: “Ist eh alles egal, die Welt wird sowieso untergehen” und auch wenn das natürlich immer im Spaß gesagt wird, ist diese Angst vor der Zukunft natürlich total real. Mich persönlich überfordert das oft. Ich würde gerne etwas daran ändern, aber weiß aufgrund dieser übermenschlich großen Aufgaben überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, oder was man tun kann, das wirklich etwas bewegt. 

Wellenbrecherbereich: Wie habt ihr damals als Band zusammengefunden? Wenn man dem Internet glauben darf, kommt ihr nicht unbedingt aus einer Region (Berlin, Nürnberg, Eschwege, Leipzig)? 

Johannes: Wir haben alle an derselben Hochschule in Mannheim studiert und im Verlauf des Studiums die Band gegründet. Mittlerweile wohnen wir wieder in Nürnberg, Leipzig und Berlin, weshalb wir Proben etc. immer etwas längerfristig planen müssen. Klappt aber ganz gut. 

Wellenbrecherbereich: Wer kam damals mit dem Bandnamen um die Ecke? Was bedeutet er? 

Johannes: Kind Kaputt steht für uns für eine Gefühlswelt, die wir während unserer Pubertät und auch später an der Uni durchlebt haben. Wir hatten alle oft das Gefühl fehl am Platz zu sein und die Erwartungen, die an uns gestellt werden und die wir uns auch selber stellen, nicht erfüllen zu können. Es hat sich lange so angefühlt, als wären wir Kinder, die plötzlich erwachsen sein müssen, aber das noch gar nicht wollen und daran zerbrechen. Das hat uns zu dem Namen Kind Kaputt geführt. 

Wellenbrecherbereich: Ihr tummelt euch im Post-Hardcore-Becken wie auch viele andere deutschsprachigen Bands: Fjørt , Van Holzen, Sperling, 8Kids, Marathonmann … jede Combo natürlich mit ihren eigenen Nuancen und Schwerpunkten. Boomt der deutschsprachige Post-Hardcore-Markt?

Johannes: Aufgrund der momentanen Entwicklung in der Live-Branche würde ich vielleicht sogar eher sagen, er stirbt gerade. Zumindest taumelt er. Aber andererseits stimmt es auch. In den letzten Jahren sehen wir immer mehr Bands, die im weitesten Sinne Rock/Punk Musik mit deutschen Texten machen. Ich glaube Vorreiter-Bands wie Fjørt und Heisskalt haben dazu geführt, dass viele Künstler*innen wieder deutschsprachige Texte für sich entdecken. Rückblickend glaube ich, es gab mal eine Zeit, in der das “uncool” oder cringe war und Bands wie Fjørt und Heisskalt haben dann gezeigt, dass es auch anders geht. Auch für unsere Musik waren beide Bands ein großer Einfluss. Trotzdem ist die Szene verglichen mit anderen Genres sehr klein und deshalb fällt es jetzt umso mehr auf, wenn die Leute zu Hause bleiben und die Clubs leer sind. 

Wellenbrecherbereich: Wie schwer ist für euch der Spagat zwischen „überzeugt und authentisch in der Nische Hardcore unterwegs sein“ aber gleichzeitig am besten auch so viele Menschen erreichen, dass ihr mit der Musik Geld verdient? 

Johannes: Für uns ist das eigentlich gar kein großes Thema. Wenn wir Songs schreiben, im Studio sind oder generell irgendetwas für diese Band machen, gibt es eigentlich nur eine Frage: “Finden wir es geil?” Wenn ja, dann wird’s gemacht. Wenn nein, dann lassen wir es. 

Ich glaube nicht, dass man nischig bleiben muss, um authentisch zu sein. Eigentlich geht es nur darum Musik zu schreiben, die uns selber und bestenfalls die Hörer*innen emotional berührt. Für mich hat das dann nichts mehr mit “Mainstream” oder “Nische” zu tun. Das ist in erster Linie Musik und der Rest bleibt Geschmackssache. 

Wellenbrecherbereich: Ist Musik, so wie man es selbst möchte überhaupt noch möglich oder macht man, selbst als unabhängige und autarke Band wie ihr es seid, ein Stück weit Musik, wie andere es möchten?

Johannes: Wie oben schon gesagt: Es ging und geht uns nie darum, Musik für andere zu schreiben. Alles was wir machen, tun wir, weil es uns selbst etwas bedeutet. Für uns existieren da zwei Welten: Zum einen das Musikmachen, die Kunst. Dabei versuchen wir komplett wir selbst zu sein und nur auf unser Bauchgefühl zu hören. Das kommt immer an erster Stelle. Und erst wenn das abgeschlossen ist, kommt die ganze Musik-Business Seite. Wie können wir die Songs vermarkten? Was können wir tun, damit möglichst viele Leute die Single hören? Dabei versuchen wir uns dann an die aktuelle Situation anzupassen und sind in gewisser Weise auch dazu gezwungen, mit dem Strom zu schwimmen. 

Wellenbrecherbereich: Warum gibt es in eurer Instrumentierung keinen Bass?

Johannes: Zu Beginn unserer Band hatten wir immer wieder wechselnde Bassisten. Auf unserer ersten Single ist auch noch ein Bass zu hören. Als unser letzter damaliger Bassist dann auch wieder ausgestiegen ist, hatten wir keine Lust uns nochmal auf die Suche zu begeben. Conna, Mathis und ich waren damals schon richtig gute Freunde und jemanden zu finden, der nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich dazu passt, hätte uns einfach zu lange gedauert. Wir wollten endlich live spielen, Songs veröffentlichen und loslegen. Deshalb haben wir nach Möglichkeiten gesucht, den Bass zu ersetzen und seitdem spiele ich eine sehr tief gestimmte Bariton-Gitarre über einen Bass- und über einen Gitarren-Amp. Seit unserer ersten EP (Die Meinung der Einzelnen) nehmen wir so auch im Studio auf.

Wellenbrecherbereich: Euch scheinen die Songtexte extrem wichtig zu sein. Allein auf dem neuen Album gibt es unzählige zitierwürdige Passagen.  Wie kommt ihr auf ein bestimmtes Thema und vor allem: Wie entsteht dann der Text dazu?

Johannes: Das sind alles Themen, die uns persönlich betreffen, weil wir sie selbst so erleben, oder weil Menschen, die uns wichtig sind, sie so erleben. Der Text entsteht dann meistens nachdem wir eine grobe instrumentale Skizze des Songs haben. Oft haben wir beim Schreiben des Instrumentals schon ein Thema oder einen Satz, der in eine bestimmte Richtung weist. Und von da aus geht’s dann weiter. Wir versuchen in letzter Zeit auch immer bewusst „sinnvolle“ Arbeitstitel für neue Songs zu wählen. „Vergessen“ ist zum Beispiel so ein Song. Da hat sich der Inhalt des Textes aus dem Arbeitstitel ergeben.

Wellenbrecherbereich: Auf der einen Seite ist es wahrscheinlich leichter in seiner Muttersprache genau das auszudrücken, was man sagen möchte. Auf der anderen Seite macht man sich viel angreifbarer für Kritik, wenn wirklich jeder versteht, was man da singt: Zu kitschig, zu prätentiös, zu schmalzig usw. Sind Texte in der Muttersprache ein intensiverer, ehrlicherer Seelenstriptease als solche in einer Fremdsprache (meist Englisch)?

Johannes: Ja, das finde ich schon. Ich glaube, bei deutschsprachigen Texten muss man viel genauer darauf achten, was man da eigentlich gerade sagt. Im Englischen hat man die Möglichkeit, deutlich allgemeiner zu bleiben, ohne dass es direkt auffällt. An Kritik denken wir beim Texten aber nie. 

Wellenbrecherbereich: Im Song Alles erreichen geht es um verschiedene Lebenswege von Menschen, um die Sorge der Eltern, was soll aus dem Jungen werden, aber auch um die Unsicherheit in einem selbst. Es gibt da diese schöne Textzeile: Ich glaube, nur wenn es nicht einfach ist, dann ist es Kunst. Deshalb die Frage, in Anlehnung an eine Podcast Folge von uns, die im nächsten Jahr erscheinen wird: Wann wird die Musik vom bloßen Handwerk zur Kunst?

Johannes: Ich glaube, auch hier liegt viel in der möglichen Emotionalität, die durch Musik ausgelöst werden kann. Es ist unmöglich, dafür eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Es gibt einfach zu viele unterschiedliche Geschmäcker. Aber ich für meinen Teil glaube: Wenn ein Stück Musik eine Emotion in mir auslösen kann, dann ist das Kunst. Wenn ich nichts fühle, sondern einfach nur die technische Raffinesse bewundere, dann ist es für mich Handwerk. 

Die Textzeile in “Alles erreichen“, die du angesprochen hast, ist auch eine Selbstreferenz. Wir haben lange Zeit unterbewusst unsere Texte verschachtelt, in dem Glauben, dass sie dadurch besser oder wertvoller werden. Rückblickend glaube ich, dass man sich hinter allzu komplizierten Metaphern auch verstecken kann. Das ist eine Art Selbstschutz, weil man sich nicht traut, die teilweise unangenehmen Wahrheiten direkt auszusprechen. 

Wellenbrecherbereich: Im Song Anfang und Ende geht es kapitalismuskritisch zu. Ihr sprecht über unsere Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, über blinden Konsum. Ein Teufelskreis, da ja unsere Wirtschaft auf Wachstum ausgelegt ist, trotz der endlichen Ressourcen auf unserem Planeten. Soll heißen: Kommen wir ohne einen Systemwechsel überhaupt raus aus dem Konsumzwang  und -fetisch?

Johannes: Hui, jetzt wird es wirklich komplex. Ich versuchs mal so:
Ich scheue mich, da klare Forderungen zu formulieren, weil dieses Thema so unendlich vielschichtig ist und weil sich meine Einstellung dazu über die Jahre auch verändert hat. Ich glaube, dass ein Großteil des Problems in jedem Menschen selbst steckt. Wir sind oft gierig und egoistisch. Wir wollen überleben und denken deshalb immer zuerst an uns selbst. Zumindest ist das der Urzustand. Bildung (vor allem Soziale Bildung) kann dann dafür sorgen, dass wir diese Denkmuster durchbrechen und unseren Fokus mehr auf die Gemeinschaft lenken. Auch dafür gibt es wieder keine einfache Lösung. Ich glaube aber, es würde helfen, wenn unsere Schulsysteme mal grundsätzlich überdacht werden. Frontalunterricht und auswendig lernen wird uns nicht durch das 21. Jahrhundert bringen.

Wellenbrecherbereich: Bei welcher Band wart ihr zuletzt im Wellenbrecherbereich bzw. Moshpit?

Johannes: Ich bin ehrlich gesagt kein großer Moshpit-Fan. Ich höre mir Konzerte lieber von weiter hinten an. Deshalb ist mein letzter Pit schon ziemlich lange her. Ich glaube, das muss auf der “Vom Stehen und Fallen” Release Tour von Heisskalt gewesen sein. Da war ich auch Stage-Diven! 

Der Wellenbrecherbereich bedankt sich recht herzlich für das ausführliche Beantworten unserer Fragen!