The Last Internationale – Running For A Dream (2023)

von Alex

Songs des Albums:

When They Come (They Bring Guns)
1984
Ghettoway Driver
Running For A Dream
Hoka Hey!
You Gotta Fight For Love
Unchain My Heart
Know Better
Hero
Edith Groove

In unseren “Tipps aus’m Pit“ (Episode #51, höre hier) hatte ich erwähnt, dass ich mich tierisch auf das neue Album des Rockduos aus New York freue und dass ich andererseits etwas traurig bin, sie nicht auf ihrer Europa Tour erleben zu können. Wie ihr unlängst vielleicht am Foto in unserem Instagram Feed erkannt habt, konnte ich wider Erwarten doch hin – und zwar nach Hamburg ins Headcrash – und was soll ich sagen? Es war eine fantastische Show! Aber nun los:

Musikalischer Metamorph – das dritte Werk eine bunte Hommage an Vorbilder
Los geht das neue Album mit dem dichtatmosphärischen Intro When They Come (They Bring Guns), indem Paz an Grace Slick von Jefferson Airplane erinnert. Ein perfektes Entree, um anschließend mit der rockigsten Nummer der Scheibe – 1984 – die Hörer*innen schm(h)erzlich Willkommen zu heißen. Dank der Riff-Originalität kommen sofort Gedanken an Tom Morello‘s Rage Against The Machine hoch. Dazu wütende, fett produzierte Post-Blues-Anleihen. Und auch der Text hätte aus der Feder Zack de la Rochas entstammen können.

No Peace when you’re looking for shelter […]
More lies, hollow
More graves, shallow
When hate echoes, cattle follow

Ja, es ist frei nach George Orwell eben „motherfuckin‘ 1984“ und wir drehen frei – ein weiteres Beispiel für Alex‘ Liederatur Solo Reihe. Die packende Gesellschaftskritik, als Vorabsingle bereits 2022 erschienen, war als Honorable Mention in der engeren Auswahl zum “Song des Jahres“ im Wellenbrecherbereich. Und einmal mehr denkt der geneigte Kapitalismuskritiker an die Wurzel des Bandnamens: Die französische Sozialismus-Hymne des 19. Jahrhunderts „The Internationale“.


Und selbst wenn ich jetzt nicht jeden Song chronologisch runterbeten möchte, muss ich an dieser Stelle direkt mit dem dritten Song weitermachen. Hier gibt es nämlich den ersten stilbrechenden Stolperstein. Hoppala! Was ist das? Nach dem anklagenden Abriss einer Dystopie, schallen uns beim Ghettoway Driver (wunderbares Wortspiel) plötzlich 80s-Synthis entgegen und wir wachen auf in einer melodischen Kate Bush Hommage. Eine auf gute Weise radiotaugliche Nummer, die erst verwundert, aber mit jedem Hören ein Stückchen mehr ihrer Eleganz entfaltet und zeigt, wie Pop frei von Gewissensbissen klingen kann. An Radiotauglichkeit mangelt es dem neuen Werk der letzten Internationalen ohnehin nicht. Auch das titelgebende Running For A Dream und You Gotta Fight For Love sind opulente, herzzerreißende Balladen im Stile der Grande Dames des Genres – Janis Joplin lässt grüßen! Leckerbissen mit großartigen Melodien, die Delila Paz‘ Bandbreite erneut untermauern. Auch musikalisch, denn sie singt nicht nur, sondern spielt Nina-Simone-like in beiden Songs Klavier.

die Stimmung, die bei TLI erzeugt wird, ist live fast greifbar: Pure Energie, Wut, Enttäuschung:
Paz und Pires legen live wirklich alles, inkl. ihrer Seelen, in jeden Song und lassen sich davontragen!

Kommen wir abschließend zurück zu dem Metamorph-Gedanken: Denn wie die New Yorker hier gestaltwandelnd zwischen Grace Slick, Janis Joplin, Nina Simone und Kate Bush, zwischen Synthipoprock und Rage Against The Machine Vibes herumspringen, ist schon schwindelerregend. Dem nicht genug, kommt mit Unchain My Heart noch eine lupenreine 3/4-Takt-Blues-Komposition zur Vita hinzu (mitgeschrieben hat hier die „Sync Deal Queen“ Jenny Owen Youngs). Und der klare Hidden Champion Edith Groove klingt wie ein Abschlussmix aus alledem: Ein frischfrecher Breakdown-Chorus, eine groovende Bassbridge gepaart mit bezauberndem Gitarrensolo und tanzbare Portugal. The Man Samples lassen das Album mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht ausklingen. Da muss selbst Paz lachen:

Independent Days
Was das Album neben musikalischer Variabilität und starken Texten noch bemerkswert macht, ist die Tatsache Delila Paz und Gitarrist Edgey Pires sich ganz bewusst, also keineswegs mangels Alternativen, dazu entschieden haben, unabhängig/“independent“, zu bleiben, was in diesem Fall „labellos“ bedeutet. Für ihre künstlerischen Freiheiten, für ihre Autarkie. Nachdem ihr Debütalbum We Will Reign in 2014 noch über Epic Records, eine Sony Tochter, lief und produziert wurde von Branchenriese Brendan O`Brien (Pearl Jam, RATM, RHCP, AC/DC, Korn, Springsteen u.v.m.), ist am aktuellen Album – wie übrigens auch am Zweitling Soul on Fire (2019) – wirklich alles selbst gemacht: Die Musik sowieso, aber auch die Produktion und sogar das auffällige Album-Cover ist von der großartigen Paz mit eigenen Händen gezeichnet worden. Und während die Band in ganz Europa tourt, wurden die vorbestellten Schallplatten und CDs zwischen den Shows “mal eben“ eigenhändig von Band und Roadteam eingetütet, beschriftet, zur nächsten Post transportiert und verschickt. Als ich das vorbestellte Werk dann in den Händen hielt, war ich ziemlich perplex, dass sich Paz sogar noch die Zeit genommen hatte, die Schallplatte zu signieren.

„I wouldn’t mind cuz to regret is to compromise“

Nach dem Konzert hatte ich die Chance kurz mit den beiden zu sprechen und ihnen ist natürlich bewusst, dass der Bekanntheitsgrad leidet, wenn man komplett unabhängig bleiben will. Sie selbst und ihre kapitalismus- und regimekritischen Texte macht es umso authentischer. Ein spannendes Thema auch mal für eine Podcastepisode: Schadet Berühmtheit oder Authentizität? Oder mehr catchy: Credit rating kills Credibility! Edgey Pires meinte an jenem Abend jedenfalls mit einem Augenzwinkern zu mir: „Aber Du kennst uns, das ist doch auch was wert!“

Und Paz bat ganz selbstironisch während der Show, als für die Zugabe Menschen aus der Crowd zu Hit ‘em With Your Blues auf die Bühne eingeladen wurden: „Vielleicht können wir es so machen, dass zumindest eine Person unten bleibt, damit nicht der ganze Laden auf der Bühne steht.“ Das Ganze sah dann so aus:

Die Live-Energie und Freude dieser Band sind nicht in (bewegte) Bilder zu pressen –
versucht habe ich es trotzdem!


Ja, wäre diese Welt eine gerechte, so wäre TLI ganz sicher „on top of it“ und würde, bei allem Respekt vor kleinen Locations, in denen üblicherweise die geilsten Abrisse stattfinden, bereits viel größere Bühnen bespielen.

Fazit:
Für mich gibt es an diesem Album (fast) nichts zu mäkeln. Und auch die bereits thematisierte Genre-Springerei, die man negativ betrachtet als fehlenden roten Faden interpretieren könnte, empfinde ich als bereichernd. Dank der extremen Wandelbarkeit begeben wir uns auf eine musikgeschichtliche Entdeckungsreise, bei der hinter jeder Ecke etwas Neues warten kann. Allerdings hätten nach meinem Geschmack ein paar mehr rockigere Nummern (neben 1984 eigentlich nur Hoka Hey!) der Albumdynamik und -dramaturgie gut getan. Aber wer bin ich, dem Paz-Pires-Paar zu erklären, wie sie in 2023 zu klingen haben?

Bewertung: 8,5/10 Wellenbrechern

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