Shaka Ponk – Selftitled (2023)

von Alex

1. D’Essence
2. Alegria
3. Dad’Algorhythm
4. 13000 Heures
5. J’aime Pas Les Gens
6. Je M’avance
7. Il y a
8. Multiply
9. Tout Le Monde Danse
10. Resign

Manchmal muss man sich doch wundern: Seit ich zahlender Kunde bei Spotify bin, und das ist gar nicht mal so lange (ihr wisst noch: Musik Tinder, lese hier), hatte ich jetzt das erste Mal die Situation, dass ich in meiner digitalen Bibliothek ein Album entdeckte, an das ich mich überhaupt nicht erinnern konnte. Shaka Ponk?! Was ist das? Nie gehört! Wer hat das hier reingezogen? Hm, muss wohl ich gewesen sein! Und vielleicht habe ich mir sogar was dabei gedacht… Und in einem Satz: Ja, das hatte ich!

Shaka Ponk passt perfekt sowohl in unsere Playlist Best of MultiSingual (Folge hier), weil viel Französisch und auch mal Spanisch gesungen wird, als auch in die Playlist New Rock (Folge hier), obwohl die Band gar nicht so “new“ ist (gegründet 2004), aber einfach verdammt frisch und zeitgemäß klingt. Interessanterweise verließen die Franzosen schon in ihrem Gründungsjahr ihr Land und zogen nach Berlin, weil sie sich in Frankreich aufgrund der dort existenten nationalen Radioquote in ihrer kreativen Freiheit sehr eingeengt fühlten.

Wie also eben gehört bin ich bei Shaka Ponk so spät auf der Party, dass schon Reinhard Meys „Gute Nacht, Freunde“ erklingt. Wie gemunkelt wird, könnte das gerade erschienene Album ihr letztes gewesen sein. Den letzten Wagon des Hypetrains habe ich aber noch erwischt.

Das „Wie für mich gemacht“-Album
In Anlehnung an eine schlechte Werbung für Kreditvergabe, kann man wirklich behaupten, dass dieses Album Vieles von dem vereint, was ich mag: Wir hören Metal-Elemente zum Kopfnicken, schnellen Punk, Rap-Parts in verschiedenen Sprachen, wunderschönen Gesang und in homöopathisch angemessenen Dosen Elektrosamples. 

Highlights
Direkt die ersten beiden Songs stechen heraus. Der Elektro-Metal-Opener D’Essence und Alegria, das neben einem indigen-anmutenden Klangbild mäandert zwischen handfestem Rock, einem im Freudentaumel gut mitgrölbaren Refrain und einer ausladenden Crescendo-Bridge.

Der klare Champion der Platte ist aber die zeitlose Ballade Il y a. Auf unserem Instagram Kanal hatte ich per Reel häppchenweise meine drei Songs des Jahres 2023 präsentiert – Il y a war einer von ihnen. Er startet mit einem mantraartigen Elektosample, das uns durch den ganzen Song begleitet, uns an die Hand nimmt, wie eine Mutter es bei ihrem Kinde tut. Es folgen Akustikgitarre, ein leichter Ghost-Note-Snare-Beat, später Geigen. Und über allem schwebt die kraftvoll und zugleich verletzliche Stimme von Sängerin Sam, die uns auf Französisch erklärt, worum es im Leben geht. Fantastisch!

Der Gesang
Apropos Gesang: Nicht nur genre-technisch hat das Album einiges zu bieten. Auch hinsichtlich der Stimmen gilt es genauer hinzuhören: Sängerin Sam kann nicht nur toll singen, sondern auch – meist auf Französisch – on point rappen. Ihr männliches Pendant Frah tut es ihr gleich. Auffällig zudem, dass neben Französisch und Spanisch auch immer mal wieder ins Englische gewechselt wird, sowohl innerhalb eines Songs, als auch über einen ganzen Song hinweg (höre zum Beispiel das punkige Dad’Algorhythm oder das radiotaugliche Multiply; gemäß Artikelanfang: Wettbewerbsnachteil in Frankreich!). Wir hören auf dem selftitled Album also Crossover im musikalischen, gesanglichen und sprachlichen Sinne.

Diese Revolution ist tanzbar
Neben dem Rock und der Vorzeige-Ballade legt das Ensembe enorm viel Wert auf Tanzbarkeit. Entgegen der Erwartung bei einem Titel wie Tout Le Monde Danse (Alle tanzen) ist jedoch gerade diese Nummer eher ein Hybrid und kein klassischer Tanzsong. Musikalisch passagenweise ja, aber die Charakterfarbe ist ein melancholisches Grauschwarz. Übersetzt man den Text und schaut sich das dazugehörige Video an, wird schnell klar: Es geht keinesfalls ums ausgelassene Tanzen. Es geht um die Frage, warum in der Konsensfabrik denn eigentlich die Lämmer schweigen, ein übersetzter Auszug:

Alle tanzen, wenn diese Leute mit den Fingern schnippen.
Aber ich tanze nicht
Ich tanze nicht nach dieser Melodie, ich tanze nicht für falsche Kriege.
Ich tanze nicht, wenn man mir alles und das Gegenteil vorschreibt.
Ich tanze nicht, wenn diese Leute mit den Fingern schnippen
.

Songs wie J’aime pas les Gens, das verbindende Resign oder besagtes Multiply sind da schon deutlich tanzbarer und klingen ein bisschen nach Culcha Candela, die in einen Zaubertrank aus Rockmusik gefallen sind. In Letzterem erklingt sogar ein zurückhaltendes Pianosample, das uns zaghaft, aber eindeutig an ABBA erinnert.  

In den Texten der Band bleibt ihr inhaltlicher Anspruch zu jede Zeit sichtbar. Wie das Cover des Albums vemuten lässt – siehe oben: Sam steht mit entschlossenem Blick, einem brennenden Molotov-Cocktail und einem umgehangenen Patronengürtel vor uns – sehen sich Shaka Ponk als Teil einer Gegenbewegung. Gegen Elitarismus, gegen soziale Ungleichheit, gegen Neo-Kolonialismus, gegen Rassismus, gegen Sexismus.

And if you don’t wanna resign
Join us in the fight, Join us in the fight
And don’t you worry ‚bout it
It’s not up to them to decide

aus Resign

Keine Frage: Auch 2024 gibt es genug zu tun. Dass die sogenannte „schweigene Mehrheit“ nicht alles kommentarlos hinnimmt, haben die letzten Wochen eindrucksvoll bewiesen, als deutschlandweit etwa 1,5 Millionen Menschen gegen Faschismus auf die Straße gingen. Allein es kann nur der Anfang gewesen sein. Auch in Zukunft wird es mehr als notwendig sein, Haltung zu zeigen. Dieses Album kann ein Soundtrack sein – 8/10 Wellenbrechern

The Cat Empire – Where The Angels Fall (2023)

Songs des Albums:
Thunder Rumbles
Boom Boom
Money Coming My Way
Deeper
Owl
Dance the Night Away
Be With You Again
Rock ‘n’ Roll
Coming Back Again
West Sun
Old Dog, New Trick
Oh Mercy
Walls
Drift Away

von Alex

Wer uns schon etwas länger (ver)folgt, weiß, dass ich durchaus ein Faible für Blechgeschmetter in meiner Musik habe – exemplarisch zu nennen seien die bereits im Wellenbrecherbereich thematisierten Moop Mama, Dubioza Kolektiv, La Vela Puerca, Leo In The Lion Cage oder eine Band, dessen Album wir voraussichtlich Anfang 2024 besprechen werden. Bleibt also dabei!

Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass sich auch die Australischen The Cat Empire – quasi als Godfather des Fusion-Brass – in meine Rotation gespielt haben. Bei Spotify schon länger verfügbar, wird das neunte Album des frisch zusammengewürfelten Ensembles in physischer Form erst ab dem 13. Oktober erhältlich sein. Ein Now Playing ist aber trotzdem drin. Doch vorher kurz zum geänderten Personal:

Ensemble-Roulette
Das Katzenimperium wurde immer schon um die Gründungsmitglieder Felix Riebl und Oliver McGill herumgebaut. Der dritte Mitbegründer Ryan Monro sowie viele weitere Mitglieder des langjährigen Stammpersonals (seit 2001) verließen die Band Ende 2021. Offiziell war dies die Auflösung. Doch Riebl und McGill hatten offensichtlich noch Bock. Ziemlich genau ein Jahr ist es her, als The Cat Empire über ihre Social Media Kanäle eine neue Zusammensetzung verkündete. Vor allem die von den Seychellen stammende Grace Barbé (Bass und Gesang) sticht dabei ins Auge und Ohr.

Ein Donnergrollen ausgelöst durch Spaß und Spielfreude
Das erste Album in ziemlich neuem Gewand startet ganz puristisch. Die tief in die Eingeweide fahrenden Töne des Sousaphons drücken die richtigen Knöpfe und so folgt ein verheißungsvolles Kopfnicken bei den Hörern fast zwangsläufig. Binnen Sekunden. Was sich musikalisch anschließt darf mit Fug und Recht als Cat Empire Classic verbucht werden, welcher den Hits des starken Vorgängeralbums Stolen Diamonds (mehr zum gescheiteren Erwerb der Platte nach der Rezension) in nichts nachsteht: Bewegende Beats, treibende Bläser, konsonant warme Melodien und dazu eine hookähnliche Gesangslinie von Felix Riebl, die beim Rezensenten schnell steckenbleibt. Wer sich hier nicht bewegt und lauthals mitsingt, ist taub oder tot.

I like the lights that shine on the distant shore
I like the blinding city where my dreams are born
I like the rush and the shudder of the stadium roar
Where the underdogs rise and the giants fall
And the thunder rumbles…

Abrocken ohne Stromgitarren-Distortion: Riebl und Konsorten haben es schlicht drauf
Bleiben wir in der chronologischen Dramaturgie des Albums darf mit Boom Boom und Money Coming My way ansatzlos weitergefeiert werden. Aber mein ganz persönliches Highlight ist Dance The Night Away, das wie eine Hommage an die Mavericks daherkommt und mich unverhofft an meine Sympathie für den Teufel (Whoo, Whoo!) erinnert und an die zappeligen Verrenkungen eines positivverrückten Jerry Lee Lewis an seinem Klavier. Pleased to meet you… Ollie McGill! Versteht ihr nicht? Dann anhören!

der Song wurde geschrieben für Riebls kleine Tochter, die offenbar gerne und viel tanzt

Auch die Ausgewogenheit passt
Aber ein gelungenes Album besticht nicht durch “die ewige Wiederkehr des Gleichen“, sondern durch ausgewogene Vielfalt. So ist Where The Angels Fall nicht nur geeignet als Untermalung für schwülwarme Cocktail-Parties im Sommer, sondern – gerade im zweiten Teil – auch sehr interessant für musikalische Apnoetaucher. Mit Songs wie West Sun (Countryblues), Old Dog, New Trick (Salsa/Tex-Mex) oder dem verträumten Rausschmeißer Drift Away (50er-Jahre-Buddy-Holly-Everyday-Vibes, mitgeschrieben und -gesungen von Grace Barbé, zum Teil auf Kreolisch) wird jede Erwartbarkeit lässig links liegen gelassen und bei Be With You Again zaubert die Band eine gar magische, akkordeon-getragene Ballade von erfrischender Moderne mit berührendem Text in die Rillen des Vinyls.

Will I ever find my joy
Knowing you had so much pain?
Why should people hear my voice?
Next to yours it sings so plain
I can't reason it at all
Yeah they words just won't explain
I'm over here, you're on the other side
I wanna be with you again
der Text lässt vermuten, dass es um Verlust und Trauerbewältigung geht – großes Kino!

Fazit
Das neue Album mit neuem Ensemble rumblet und boomt, es rockt, rollt und tanzt wie wir es aus der Vergangenheit gewohnt sind, aber zu gleichen Teilen driftet es auch tiefer. Und zwar dorthin, wo selbst die Engel (vor Staunen um)fallen. Absolute Kaufempfehlung: 8,5/10 Wellenbrecher.


Nachtrag zum Vorgänger Stolen Diamonds (aus 2019):
Bezugnehmend auf meinen allerersten Blog-Artikel zum Thema “Analoge Musikbeschaffung: Amazon vs. Einzelhandel“ darf ich an dieser Stelle noch schnell verraten, dass ich mir besagtes Album für 30,- Euro im Einzelhandel bestellt hatte. Nachdem ich wochenlang nichts hörte, rief ich nochmal an. Leider wurde meine Bestellung vergessen, obwohl ich extra persönlich vor Ort gewesen war. Man wollte die Platte schnell nachbestellen, um dann festzustellen, dass es inzwischen keine mehr gab – zumindest keine unter 100 Euro… Ärgerlich! Natürlich: Fehler passieren, keine Frage, aber leider war es in diesem Laden, dessen Name der Fairness halber nicht genannt wird, nicht das erste Mal. In solchen Fällen braucht sich niemand wundern, weshalb am Ende eben doch oft der Weg ins Internet gewählt wird. Und dabei muss es selbstverständnlich nicht immer Amazon sein. Es gibt auch gut sortierte Online-Shops von kleinen Anbietern.

Abschließend: Wer Stolen Diamonds zu einem fairen Preis abzugeben hat, hier schreibt ein dankbarer Empfänger.

Wrong Chat – Wasteland (2022)

Von Felix

Wrong Chat sind zwei Bremer, die mit Wasteland im Oktober 2022 ihren ersten Longplayer veröffentlicht haben und das weit überwiegend in Eigenregie. Das Album ist als Tape und als CD erhältlich (und natürlich digital), am einfachsten hier über Bandcamp.

Paul, Sänger und Gitarrist haben wir vom Wellenbrecherbereich Anfang 2023 noch live im Tower Bremen gesehen, als er als Support-Act für Shitney Beers auftrat. Das war schon ein etwas besonderer Auftritt, da ich beim ersten Stück noch dachte, er macht jetzt so ein wenig Soundcheck – aber nein, aufgrund der kurzfristigen Einladung war es Schlagzeuger Tom Wagner einfach nicht möglich teilzunehmen und so wurden die Studiodrums kurzerhand vom alten I-Pod von Pauls Schwester eingespielt. Es war trotzdem (oder auch deswegen) ein gelungener und unterhaltsamer Auftritt. Paul hat an dem Abend immer knapp aber ganz launig die ausgewählten Lieder vorgestellt. Mir hat es so gut gefallen, dass ich mir später direkt ein Tape gekauft habe. Es hat viel Spaß gemacht mal wieder einen wirklich guten Grunge-Sound zu hören. Das ist ja doch mittlerweile eine Rarität und deshalb denke ich auch, dass hier genau das Potential für Wrong Chat liegt: Sie sind nicht die xte schon ganz gute, aber auch nicht wirklich herausragende Punkband, sie schwimmen auch nicht auf der Welle der (ebenfalls oft guten aber eben) echt vielen deutschen Post-Hardcore Bands, sondern gehören zu den Bands, die zu einer Reanimation des Grunge beitragen könnten.

Den Gedanken mag ich sehr, wenngleich mir auf Wasteland auch nicht jeder Song gut gefällt. Ich kann für mich festmachen, dass ich alle etwas raueren Songs bzw. Parts sehr schätze, die etwas ruhigeren bis poppigen Teile gefallen mir nicht immer. In der Hauptsache liegt das daran, dass Paul für seinen Gesang immer den gleichen Effekt nutzt und ich finde das in bestimmten Passagen nicht immer passend, bzw. manchmal sogar etwas nervig, so dass ich unten in der Wertung dann natürlich auch ein paar Abzüge habe.

Um das aber auch mal konkret zu benennen: nicht so gelungen finde ich das z.B. in dem Song Playlist, obwohl der sonst (oder für andere Hörerinnen und Hörer) vom Konstrukt her wohl durchaus Ohrwurmpotential hat. Might Be und What I Feel finde ich dadurch insgesamt auch etwas anstrengender. Die Ausnahme dieser Regel bildet hierbei Two Brainer – gleiches Prinzip, also insgesamt etwas ruhiger, Stimmeneffekt der selbe, aber irgendwie packt mich dieser Track dann doch, weil er sich im und um den Chorus herum etwas interessanter entfaltet.

Sehr gelungen hingegen sind aus meiner Sicht der titelgebende Song Wasteland und Stick Togehter. Letzteres klingt in der Gitarre recht offensichtlich nach Nirvana, entwickelt aber schnell einen eigenen wirklich guten und animierenden Sound. Wasteland ist sehr abwechslungsreich und steigert sich zum Ende hin immer weiter in Tempo und Härte und hat daurch Potential für den besten Konzert-Track von Wrong Chat (siehe Video weiter oben).

Mein Lieblingsstück ist aber So Many Times. Der rundeste Track mit einem geil straighten Gitarren-Riff in den Strophen, mit klassischen Grunge-Passagen und im Chorus und in den Bridges verlangsamt und die Gitarre ohne Verzerrung also irgendwie ein Retro-Sound trotzdem mit ganz eigenem Charakter – liebe ich.

Ich habe im Laufe des Jahres 2023 mit The Bobby Lees, Margaritas Podridas und eben Wrong Chat drei Bands neu ins Herz geschlossen, die es schaffen Grunge und / oder Garage Punk zwar nicht neu zu erfinden, aber wieder mit neuem Leben zu füllen. Wenn Stilrichtungen über Jahre und Jahrzehnte nur von den Legenden und Haudegen leben, dann wird es irgendwann langweilig und läuft sich allmählich zu Tode. Deshalb freue ich mich sehr über diesen Sound, den Wrong Chat auf ihrem Album Wasteland anbieten und wünschte mir persönlich ein wenig mehr Härte oder Mut zum Unkonventionellen.

Um das ganze abschließend zu bewerten, gehe ich „nur“ auf sechs von zehn Wellenbrecher – mit Potential für viel mehr, aber ich merke schon, dass ich die Songs, die mir nicht gefallen auch tatsächlich weiterskippe und mich die Platte so mit den 10 Tracks zu ziemlich genau 60% zufriedenstellt (plus einen Extrapunkt für die Katze auf dem Cover von Wasteland – habt ihr sie entdeckt?).

Alphatraz – Gebeine (2022)

von Felix

„kommen wir nun zu etwas ganz anderem“

Alphatraz ist das Synonym des Künstlers Christoph Martin. Hier gibt es etwas zu hören, was wir in dieser Form sicher noch nie im Wellenbrecherbereich hatten. Ein reines Piano-Album. Alle zehn Songs sind Eigenkompositionen. Warum beschäftigen wir uns im Wellenbrecherbereich mit einer Platte voller Klavierstücke? Nun ja, eigentlich gibt es da mehrere Gründe: Zum einen, weil wir uns ja eh auf die Fahnen geschrieben haben, auch über unseren musikalischen Tellerrand hinauszugehen, zum anderen, weil von jedem einzelnen Song von Gebeine – so der Titel des Ende 2022 erschienenen Albums – eine verrückt anziehende Faszination ausgeht und außerdem, weil das Komponieren an sich in der Öffentlichkeit oft viel zu wenig thematisiert wird, obwohl es eine große Kunst ist und egal in welchen musikalischen Bereich wir gehen – viele populäre Lieder sind am Klavier entstanden und so bietet auch Alphatraz‘ Platte eine Reise in eine irgendwie ursprüngliche Fantasiewelt.

Die Lieder und das gesamte Konzept dieses Werkes sind sehr finster und bedrohlich, so liegt eine Nähe zu bestimmten Metal-Genres durchaus auf der Hand und der Künstler selbst hat auf seinem YouTube-Kanal auch einige hervorragende Interpretationen bekannter Metal-Songs, die ebenfalls sehr empfehlenswert sind.

Das Düstere in der Musik erfordert natürlich eine grundsätzliche Stimmung bzw. Bereitschaft. Wenn man sich in Partylaune begeben möchte, ist Gebeine sicher nicht die richtige Wahl. Aber die CD, die ich nun nach ihrem Erscheinen im dunklen Winter genauso gehört habe wie heute, also mitten im Juli, hat sehr viel zu bieten.

Eigentlich möchte ich auch bei dieser Rezension weniger auf einzelne Titel eingehen, als sonst im Now Playing, weil ich persönlich es auch tatsächlich eher als ein Gesamtkonstrukt begreife. Dennoch möchte ich zwei Titel hervorheben, die mir besonders gut gefallen.

Da ist zum Einen der Song Vindicta, der für mich sehr viel von einer guten Filmkomposition hat und somit viel Ankurbel-Potential für das eigene Kopfkino bietet. Außerdem ist das Lied etwas heller als die meisten anderen, so dass ich in einigen Passagen denke, hier könnte man sogar Teile der Komposition als Grundlage für einen guten Indie-Pop-Song nutzen. Der Song geht also etwas über den Grundton des Albums hinaus.

Ein anderer Song, der diesen Grundton hat, ist Occultatio, vor allem der Beginn hat es mir angetan. Das Lied ist so reduziert auf einzelne Töne in leichter Atmosphäre, dass es gerade diese Reduktion ist, die unglaublich viel Platz im Kopf schafft und durch dieses so simple Mittel eine Spannung erzeugt wird, die den Hörer (also mich zumindest) total neugierig werden lässt, was in der nächsten Sekunde wohl passieren wird.

Die schönste Melodie erklingt für mich gleich im zweiten Stück Sketches of Pain und ich liebe es, wenn sich diese schöne Melodie in den tiefsten Tönen auflöst und dann fast schon eine Art Kampf zwischen bedrohlich tiefen Passagen und den immer noch finsteren aber aufgelockerten und klareren hohen Tönen folgt.

Bei den beiden letztgenannten habe ich in einigen Passagen aus irgendeinem Grund sofort Assoziationen zu Iron Maiden Kompositionen – musiktheoretisch begründen, warum das so ist, kann ich leider nicht, aber versucht euch bei diesen Titeln mal gelegentlich markante Maiden Instrumentierung vorzustellen.

Eine Bewertung fällt hier tatsächlich schwer. Ihr habt gemerkt, dass ich das Gesamtkonstrukt sehr schätze und dass ich fasziniert von dieser CD bin. Ich muss aber auch zugeben, dass es keine Musik ist, die ich im Alltag einfach mal so in meine Playlist ziehe und die eben auch eine gewisse Grundstimmung voraussetzt. Dennoch möchte ich hier auch keine Grenze setzen, nur weil eine klassische Bewertung nach Mosh-Pit-Tauglichkeit nicht möglich ist und daher gebe ich siebeneinhalb von zehn Wellenbrechern.

Abgerundet wird das Album von einem wirklich herausragenden und voll treffendem Artwork von collapse of art und dem Logo, welches von Jordan Barlow entworfen wurde. Das Album gibt es aktuell über Bandcamp zu hören und zu beziehen, außerdem auch als CD über Schattenpfade.de

https://alphatraz.bandcamp.com/album/gebeine

Riverside – ID.Entity (2023)

von Alex

Songs des Albums:

Friend or Foe?
Landmine Blast
Big Tech Brother
Post-Truth
The Place where I Belong
I’m Done with you
Self-aware

In den letzten Tipps aus’m Pit – April 2023 (Episode #51) – habe ich euch verraten, auf welche drei Neuerscheinungen ich mich in 2023 besonders freue (hört hier gerne nochmal rein). Zwei davon sind inzwischen erschienen: Running for a Dream von The Last Internationale (hier das Now Playing) und eben das achte Album der Prog-Rocker Riverside.

In der Podcastepisode habe ich die Musik lapidar als „Frickel-Rock à la Rush mit einem Schuss Hammond-Orgel-Elementen“ beschrieben. Nun muss ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass diese Beschreibung in 2023 nur zur Hälfte zutrifft. Die Keys sind auf dem neuen Werk der Polen nämlich deutlich in den Hintergrund gerückt bzw. ihre elektronischen Cousins bestimmen das Geschehen. Gleich der Opener Friend or Foe? lässt da aufhorchen: Ein unaufgeregtes, ausladendes Intro, welches auch in die 80er-Jahre-Synthiwelle hinein gepasst hätte und eminent an Bronski Beat’s Smalltown Boy erinnert (ab ca. 2 Minuten), mutiert zu einer prog-poppigen 7 1/2 Minuten-Erzählung – and you’ve been customised for my desires:

Brutal gut, wie hier zwichen Progrock, Pop und Synthielementen gekonnt und ungezwungen vom Buffet genommen wird. Dabei funktioniert das Album in erster Linie als Gesamtkunstwerk, einzelne Songs herauszupicken ist gar nicht nötig, vielleicht sogar unangemessen. Sagen wir, jeder Song ist wie eine Blume – ein bescheidener, aber wichtiger Teil des wunderschönen Blumenstraußes (sieben Songs, Gesamtlänge über 70 Minuten, Vinyl mit Bonus).

Aus musikjournalistischem Antrieb heraus schreibe ich aber doch, dass neben Friend or Foe? auch die anderen Singles I’m done with you (wütend rockig, unheimlich atmosphärisch und atmosphärisch unheimlich, klingt wie eine Abrechnung mit Putin) und Self-Aware (wunderbar rush-ähnliche Melodiegestaltung und Songstruktur) auf ihre Weise in Gänze zünden und dass gerade Big Tech Brother keine Wünsche offen lässt und als der Synonym-Song für das Album gelten kann:

Fazit:
Objektiv betrachtet verdient dieses Album absolute Bestnoten. Die Musiker komponieren und spielen auf unglaublichem Niveau, die Musik rockt und wenn sie nicht rockt, verzaubert sie. Die Songs sind wie Theaterstücke, die Worte gekonnt gewählt und die Stimme von Mariusz Duda unverwechselbar in Höhe und Volumen.
Subjektiv betrachtet ist mir das Album für die allerhöchsten Bestnoten jedoch zu… perfekt. Ja, klingt unfair, ich weiß. Zu gut?! Ernsthaft? Was ist los mit mir? Die Produktion und vor allem das Mastering erscheint mir technisch so perfekt, die Musik so tight, dass die Planken links und rechts keine unerwarteten Ausbrüche dulden. Und das heißt nicht: Spielt doch mal absichtlich ein bisschen falsch… aber Musik ist eben immer noch – trotz aller KI und technischer Hilfsmittel – eine Ausdrucksform von und für Menschen und die sind nicht perfekt. Diese eine Idee der Überraschung, der Unberechenbarkeit, ja, des Cholerischen fehlt mir. ID-Entity ist musikalisch großartig, aber das Herz für „Unperfektion“, welches ich im positiven Sinne auf Vorgängeralbum durchaus schlagen hörte, vermisse ich. Aber nochmal: Das ist Jammern auf ganz, ganz hohem Niveau. Ich höre hier ein Top-Album! 8/10 Wellenbrechern