The Last Internationale – Running For A Dream (2023)

von Alex

Songs des Albums:

When They Come (They Bring Guns)
1984
Ghettoway Driver
Running For A Dream
Hoka Hey!
You Gotta Fight For Love
Unchain My Heart
Know Better
Hero
Edith Groove

In unseren “Tipps aus’m Pit“ (Episode #51, höre hier) hatte ich erwähnt, dass ich mich tierisch auf das neue Album des Rockduos aus New York freue und dass ich andererseits etwas traurig bin, sie nicht auf ihrer Europa Tour erleben zu können. Wie ihr unlängst vielleicht am Foto in unserem Instagram Feed erkannt habt, konnte ich wider Erwarten doch hin – und zwar nach Hamburg ins Headcrash – und was soll ich sagen? Es war eine fantastische Show! Aber nun los:

Musikalischer Metamorph – das dritte Werk eine bunte Hommage an Vorbilder
Los geht das neue Album mit dem dichtatmosphärischen Intro When They Come (They Bring Guns), indem Paz an Grace Slick von Jefferson Airplane erinnert. Ein perfektes Entree, um anschließend mit der rockigsten Nummer der Scheibe – 1984 – die Hörer*innen schm(h)erzlich Willkommen zu heißen. Dank der Riff-Originalität kommen sofort Gedanken an Tom Morello‘s Rage Against The Machine hoch. Dazu wütende, fett produzierte Post-Blues-Anleihen. Und auch der Text hätte aus der Feder Zack de la Rochas entstammen können.

No Peace when you’re looking for shelter […]
More lies, hollow
More graves, shallow
When hate echoes, cattle follow

Ja, es ist frei nach George Orwell eben „motherfuckin‘ 1984“ und wir drehen frei – ein weiteres Beispiel für Alex‘ Liederatur Solo Reihe. Die packende Gesellschaftskritik, als Vorabsingle bereits 2022 erschienen, war als Honorable Mention in der engeren Auswahl zum “Song des Jahres“ im Wellenbrecherbereich. Und einmal mehr denkt der geneigte Kapitalismuskritiker an die Wurzel des Bandnamens: Die französische Sozialismus-Hymne des 19. Jahrhunderts „The Internationale“.


Und selbst wenn ich jetzt nicht jeden Song chronologisch runterbeten möchte, muss ich an dieser Stelle direkt mit dem dritten Song weitermachen. Hier gibt es nämlich den ersten stilbrechenden Stolperstein. Hoppala! Was ist das? Nach dem anklagenden Abriss einer Dystopie, schallen uns beim Ghettoway Driver (wunderbares Wortspiel) plötzlich 80s-Synthis entgegen und wir wachen auf in einer melodischen Kate Bush Hommage. Eine auf gute Weise radiotaugliche Nummer, die erst verwundert, aber mit jedem Hören ein Stückchen mehr ihrer Eleganz entfaltet und zeigt, wie Pop frei von Gewissensbissen klingen kann. An Radiotauglichkeit mangelt es dem neuen Werk der letzten Internationalen ohnehin nicht. Auch das titelgebende Running For A Dream und You Gotta Fight For Love sind opulente, herzzerreißende Balladen im Stile der Grande Dames des Genres – Janis Joplin lässt grüßen! Leckerbissen mit großartigen Melodien, die Delila Paz‘ Bandbreite erneut untermauern. Auch musikalisch, denn sie singt nicht nur, sondern spielt Nina-Simone-like in beiden Songs Klavier.

die Stimmung, die bei TLI erzeugt wird, ist live fast greifbar: Pure Energie, Wut, Enttäuschung:
Paz und Pires legen live wirklich alles, inkl. ihrer Seelen, in jeden Song und lassen sich davontragen!

Kommen wir abschließend zurück zu dem Metamorph-Gedanken: Denn wie die New Yorker hier gestaltwandelnd zwischen Grace Slick, Janis Joplin, Nina Simone und Kate Bush, zwischen Synthipoprock und Rage Against The Machine Vibes herumspringen, ist schon schwindelerregend. Dem nicht genug, kommt mit Unchain My Heart noch eine lupenreine 3/4-Takt-Blues-Komposition zur Vita hinzu (mitgeschrieben hat hier die „Sync Deal Queen“ Jenny Owen Youngs). Und der klare Hidden Champion Edith Groove klingt wie ein Abschlussmix aus alledem: Ein frischfrecher Breakdown-Chorus, eine groovende Bassbridge gepaart mit bezauberndem Gitarrensolo und tanzbare Portugal. The Man Samples lassen das Album mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht ausklingen. Da muss selbst Paz lachen:

Independent Days
Was das Album neben musikalischer Variabilität und starken Texten noch bemerkswert macht, ist die Tatsache Delila Paz und Gitarrist Edgey Pires sich ganz bewusst, also keineswegs mangels Alternativen, dazu entschieden haben, unabhängig/“independent“, zu bleiben, was in diesem Fall „labellos“ bedeutet. Für ihre künstlerischen Freiheiten, für ihre Autarkie. Nachdem ihr Debütalbum We Will Reign in 2014 noch über Epic Records, eine Sony Tochter, lief und produziert wurde von Branchenriese Brendan O`Brien (Pearl Jam, RATM, RHCP, AC/DC, Korn, Springsteen u.v.m.), ist am aktuellen Album – wie übrigens auch am Zweitling Soul on Fire (2019) – wirklich alles selbst gemacht: Die Musik sowieso, aber auch die Produktion und sogar das auffällige Album-Cover ist von der großartigen Paz mit eigenen Händen gezeichnet worden. Und während die Band in ganz Europa tourt, wurden die vorbestellten Schallplatten und CDs zwischen den Shows “mal eben“ eigenhändig von Band und Roadteam eingetütet, beschriftet, zur nächsten Post transportiert und verschickt. Als ich das vorbestellte Werk dann in den Händen hielt, war ich ziemlich perplex, dass sich Paz sogar noch die Zeit genommen hatte, die Schallplatte zu signieren.

„I wouldn’t mind cuz to regret is to compromise“

Nach dem Konzert hatte ich die Chance kurz mit den beiden zu sprechen und ihnen ist natürlich bewusst, dass der Bekanntheitsgrad leidet, wenn man komplett unabhängig bleiben will. Sie selbst und ihre kapitalismus- und regimekritischen Texte macht es umso authentischer. Ein spannendes Thema auch mal für eine Podcastepisode: Schadet Berühmtheit oder Authentizität? Oder mehr catchy: Credit rating kills Credibility! Edgey Pires meinte an jenem Abend jedenfalls mit einem Augenzwinkern zu mir: „Aber Du kennst uns, das ist doch auch was wert!“

Und Paz bat ganz selbstironisch während der Show, als für die Zugabe Menschen aus der Crowd zu Hit ‘em With Your Blues auf die Bühne eingeladen wurden: „Vielleicht können wir es so machen, dass zumindest eine Person unten bleibt, damit nicht der ganze Laden auf der Bühne steht.“ Das Ganze sah dann so aus:

Die Live-Energie und Freude dieser Band sind nicht in (bewegte) Bilder zu pressen –
versucht habe ich es trotzdem!


Ja, wäre diese Welt eine gerechte, so wäre TLI ganz sicher „on top of it“ und würde, bei allem Respekt vor kleinen Locations, in denen üblicherweise die geilsten Abrisse stattfinden, bereits viel größere Bühnen bespielen.

Fazit:
Für mich gibt es an diesem Album (fast) nichts zu mäkeln. Und auch die bereits thematisierte Genre-Springerei, die man negativ betrachtet als fehlenden roten Faden interpretieren könnte, empfinde ich als bereichernd. Dank der extremen Wandelbarkeit begeben wir uns auf eine musikgeschichtliche Entdeckungsreise, bei der hinter jeder Ecke etwas Neues warten kann. Allerdings hätten nach meinem Geschmack ein paar mehr rockigere Nummern (neben 1984 eigentlich nur Hoka Hey!) der Albumdynamik und -dramaturgie gut getan. Aber wer bin ich, dem Paz-Pires-Paar zu erklären, wie sie in 2023 zu klingen haben?

Bewertung: 8,5/10 Wellenbrechern

R.E.M. – Murmur (1983)

von Alex

Die Musikwelt horcht auf: Michael Stipe, Sänger der legendären US-amerikanischen Alternative-Band R.E.M., hat für 2023 – nach langer musikalischer Abstinenz* – sein erstes Solo-Album angekündigt, unterdessen R.E.M.’s Debütwerk Murmur in diesem Monat 40 Jahre alt wird bzw. wurde (Release: 12.4.1983). Herzlichen Glückwunsch! Damit ist Murmur das bis dato älteste rezensierte Album im Wellenbrecherbereich.

Jubiläum und Neuerscheinung – zwei Gründe für mich, nochmal genauer hinzuhören, wie eine der prägendsten Bands der 90er ihre Weltkarriere begann. Und als kleiner Teaser sei an dieser Stelle verraten, dass R.E.M. in den kommenden Wochen nochmal Thema in unserem Podcast sein wird (seid also gespannt und bleibt unbedingt am Ball!).

Inspiration
Auf den ersten Blick mag man es vielleicht kaum glauben, aber der Einfluss, den R.E.M. auf spätere, wichtige Bands genommen hat, ist kaum hoch genug zu bewerten. Da wären z.B. Radiohead, The Pixies, Pearl Jam (Eddie Vedder: „I believe I listened to it [Murmur] tvelve-hundred-sixty times“) oder Nirvana, um nur einige wenige zu nennen. Kurt Cobain gab sogar zu: ”If I could write just a couple of songs as good as what they’ve written… I don’t know how that band does what they do. God, they’re the greatest.” (mehr zur Beziehung Stipe/Cobain dann im Podcast).

Rückblick
Beamen wir uns zurück ins Jahr 1983, kann besichtigt werden, dass der Trend klar zum Heavy Metal und Hard Rock ging. Metallica und Dio debütierten (mit “Kill Em All“ respektive “Holy Driver“) und Bands wie Mötley Crüe, Def Leppard, Accept, Iron Maiden oder Black Sabbath waren mit ihren Neuerscheinungen im selben Jahr ebenfalls in aller Munde. Als Gegenentwurf dazu betraten wie aus dem Nichts vier schüchterne „Jungs“ aus Athens (Georgia) die Weltbühne und spielten ihre unterschwellig rockbare, latent zur Melancholie neigende Musik. Sänger Michael Stipe war so zurückhaltend, dass er bei ihrem ersten landesweit ausgestrahlten Auftritt bei David Letterman nach der Performance kein einziges Wort mit dem Moderator wechselte, sich stattdessen in den Hintergrund setzte. Die Fragen des Latenight-Talkers beantworteten die Saiten-Instrumentalisten Peter Buck (Gitarre und damals arbeitend im Schallplattenladen) und Mike Mills (meistens Bass), siehe und höre hier:

der zweite Song im Video „South Central Rain“ sollte später auf dem Zweitling von R.E.M. – Reckoning – erscheinen

Zum Album:
Fangen wir für die Rezension mit dem hier präsentierten Song an, RE.M.s erste Single überhaupt aus dem Jahr 1981 (!) und Opener des Albums: Radio Free Europe ist klar der Hit des Erstlings und ein eindeutiger Fingerzeig, wohin die Reise mit R.E.M. noch gehen könnte.
Textlich ist Sinlge wie Album oft kryptisch oder schlicht kaum zu verstehen. Murmur (Gemurmel) halt. Einer der Gründe, weshalb auch eingangs zitierter Vedder das Album in Ermangelung eines Booklets mit Songtexten so oft hörte: Er wollte unbedingt verstehen, was der Sänger da von sich gibt.

Bei Talk About The Passion oder auch Perfect Circle musste ich an The Smiths denken, obwohl diese beinahe zeitgleich in England ihre Karriere begannen, sodass eine bewusste gegenseitige Inspiration eher unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen ist (das Debüt von R.E.M. war ein knappes Jahr früher dran).

Und was macht das Album besonders?
Kurze Antwort: Die Eigenarten der Musiker. Peter Buck hat die herausragende Fähigkeit, sich und seine Gitarre zurückuznehmen, um Platz zu schaffen für die tragenden (Gesangs)melodien des Songs, sodass Stimme und Gitarrenpattern beinahe miteinander zu tanzen scheinen oder – wie in dem starken Sitting Still – wechselruf-artig miteinander zu spielen. Buck ist eine oft unterschätzte Triebfeder in der Maschine und wichtige Waffe in R.E.M.s hoher Kunst der Melodienfindung.

Was sich auf Murmur bereits ankündigt, wird im Laufe der gesamten R.E.M. Karriere zur Gewissheit und zu einer Art Signature Sound. Denn Buck spielt (Ausnahmen inbegriffen) keine Soli. In der R.E.M. Biographie von David Buckley erklärt er es ganz pragmatisch:

“I know that when guitarists rip into this hot solo, people go nuts, but I don’t write songs that suit that and I am not interested in that. I can do it if I have to, but I don’t like it.”
Peter Buck

Diese zurückhaltende Untermaltung, gespickt mit liebevollen Details, macht sein Spiel essentiell und einzigartig, sodass die Besonderheit der Band und ihre Upside im Allgemeinen – früh ersichtlich werden. Der Song Catapult beispielsweise könnte als der Urgroßvater von R.E.M.s Übersong Losing My Religion durchgehen, nicht nur, aber auch wegen der mandolin-esken Gitarre.

Und Mike Mills, der sich neben dem meist melodiös statt rhythmisch interpretierten Bass auch für die Tasteninstrumente verantwortlich zeichnet, schließt dank eindrucksvoller „Gegenmelodien“ die fehlenden Zwischentöne und Ghost Notes. Seine Stimme im Background harmoniert dabei perfekt mit der von Stipe und sorgt für wohlige Wärme. Stipes Stimme ist auf dem Debüt zwar noch roh, aber die ersten Knospen sind klar zu erkennen, ehe die Charakteristik seines unverkennbaren Timbres ab dem Album Document (1987) gänzlich zur Blüte gereift.

kurzer Exkurs:
Musik ist ja immer auch persönliche Erinnerung und Assoziation. Ich habe nicht die geringste Ahnung wieso, aber bei R.E.M. Songs aus den 80ern und 90ern – und das sind ja bekanntlich eine Menge -, muss ich immer an alte Tom Hanks Filme aus der gleichen Zeit denken. Kann mir jemand erklären, wie das kommt? Ich weiß es wirklich nicht! Einen R.E.M. Song zu einem Tom Hanks Film habe ich nicht gefunden, wenngleich die Band gefühlt in jedem anderen Film zu der Zeit zu hören ist. Die einzige mir bekannte Parallele: Michael Stipe hat 1994 die Rubrik Best Male Performance bei den MTV Movie Awards präsentiert, die Tom Hanks dann mit dem Film Philadelphia gewann.

Fazit:
Murmur ist ein bockstarkes Debüt, das in „harten“ Metal-Zeiten die Musikwelt verzaubern konnte. Neben dem perfekten Katalysator für eine erfolgreiche Weltkarriere (der treibende Ohrwurm Radio Free Europe), hören wir viele melancholische (Zwischen)töne, deren Schwermut und Sehnsucht stets auf subtile Weise mitschwingen und der autodidaktischen Band (außer Mills) großes Songwriting attestieren. Im letzten Viertel fällt das hohe Niveau ein wenig ab, aber der Grundstein war eindrucksvoll gelegt. 7,5/10 Wellenbrechern

Mehr zu Stipe, Buck und Co. wie eingangs erwähnt bald bei uns im Podcast – einhergehend mit der dringenden Empfehlung, sich auch mal die tollen Schattensongs dieser großen Band zu Gemüte zu führen!

Hier eine kurze Auswahl, weder in alphabetischer, noch in chronologischer Reihenfolge und erst recht nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit:

Country Feedback
Try not to breathe
Half a world away
Find the river
So. Central Rain (höre auch oben, zweiter Song im ersten Video)
Driver 8
Sweetness follows
Monty got a raw deal
I’ll take the rain
E-Bow the letter
Daysleeper
Why not smile
Walk unafraid
Leaving New York

* ein paar wenige Songs gab es in den vergangenen Jahren von ihm zu hören. Einiges davon wird vermutlich auf dem Album zu finden sein.

Fjørt – Nichts (2022)

von Felix und Alex

„Das Album spricht eine ziemlich hoffnungslose Sprache“
Chris im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Im November 2022 veröffentlichten Fjørt ihr viertes Album nichts. Derzeit spielen sie ihre Tour mit dem Titel Nichts hat mehr Bestand. In Bezug auf das Album lässt sich zunächst ganz nüchtern feststellen, dass das so nicht stimmt. Schon vor dem ersten Hören wird klar, einiges hat sehr wohl weiterhin Bestand. Die Songtitel beispielsweise bestehen weiterhin aus nur einem Wort. Und auch beim Hören wird schnell klar, dass sich die Band auch musikalisch treu bleibt – zum Glück. Fjørt liefern ihren eigenen Stil im Post Hardcore. Der Sound der Gitarre mal sphärisch, mal brachial, bildet unterstützt vom passenden Bass und Schlagzeug, das mit markanten und extrem kreativen Gimme-More-Beats aufwartet, den Rahmen für den Gesang.

„Wir nutzen da ein paar technische Spielereien… […] kriege ich die Rythmusgitarre aus dem Bass raus?! Das Signal wird audiotechnisch gesplittet, eins auf Gitarren-Amp, eins auf Bass-Amp
David im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Dieser Sound bleibt auch auf Nichts in vielen Teilen ein markantes Schreien, zeigt sich insgesamt aber facettenreicher als auf den Vorgänger-Platten.

„Das Schreien ist so da drin – das ist wie Fahrradfahren. Aber das Singen […], da hab ich mich bisher nicht so 100% getraut. Wir wollen uns aber immer weiter challengen. Wir haben einen hohen Anspruch, Dinge auszuprobieren und wollen lange Spaß daran haben.“
Chris im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Ich finde, dass es ein wesentliches Merkmal von nichts ist und dieses Album noch etwas abhebt. Als Beispiel: fernost enthält einen gesungenen Chorus, feivel in den Strophen ruhigere Gesangsteile und das in unserem Interview inhaltlich recht ausführlich besprochene kolt bietet in den Strophen eher einen Rap / Sprechgesang.

Im Song lakk (eine Konsumkritik) wurde – neben den Einspielern aus dem ersten deutschen Werbespot in den 50er Jahren – Kindergesang integriert (höre Interview) und bei lod ist sogar ein ganzer Knabenchor zu hören (höre ebenfalls Interview).

„Vierdrittel langt für mich.
Den Rest darfst du verteilen“

Das alles wird jedoch bemerkenswert dezent in die Songs integriert, so dass es dem Fjørt-typischen Hörvergnügen keinen Abbruch beschert. Ganz im Gegenteil, gerade diese Mischung aus klassischem Post-Hardcore – der mal, wie bei den Liedern schrot oder salz kompromisslos in die Fresse haut, dann wieder ruhige bis düstere Passagen hat, wie z.B. in dem instrumentalen wasser, oder bei tau – und den beschriebenen neuen Elementen – macht dieses Werk noch viel eindrücklicher und erhöht den Reiz des Nochmal-Hören-Wollens.

Ein weiterer Anreiz sind die Texte: Egal ob glasklar und schmerzhaft entlarvend ins Gesicht, wie in schrot – einer überzeugenden Kritik zu Fleischproduktion und -konsum:
Komm mal lang hier man, halt drauf, das lebt noch / wir sind die Creme de la Scheißdrauf!

Oder eher lyrisch oder kryptisch formuliert – nichts ist wie ein gutes Buch, in dem man bestimmte Passagen nochmal und nochmal liest, weil man sie so gelungen formuliert findet. Oder anders: Das Album ist wie ein Poetry Slam auf ganz hohem Niveau.

So vergibt der Wellenbrecherbereich trotz oder gerade wegen der „ziemlich hoffnungslosen Sprache“ für nichts, einem rundum gelungenen, abwechslungsreichen und atmosphärsch dichtem Album, das die Band eindeutig nochmal weiter nach vorne gebracht hat, bockstarke 9/10 Wellenbrecher.

L.A. Salami – Ottoline (2022)

von Alex

Ein Wort: Wow! Aus gegebenem Anlass beginne ich einfach mal mit dem Fazit, denn was der Londoner Lookman Adekunle Salami – kurz L.A. Salami – auf seinem neuen Longplayer – veröffentlicht im Oktober – musikalisch und textlich auf das Vinyl zaubert, ist schlicht atemberaubend. Das inzwischen vierte Studioalbum – betitelt nach dem altertümlichen weiblichen Vornamen Ottoline (ausgesprochen: Ottolyn) -, produziert in Tschechien, klingt, als wäre der Bob Dylan der Sechziger Jahre in die Neuzeit gereist. Wir hören folkige Akustikgitarren, vereinzelt Mundharmonika, unterstützende Streicher und Bläser ebenso wie gerappte Textpassagen auf Elektro-Beats und Samples.

Salami ist – ähnlich wie Dylan – kein Mann für Vers-Chorus-Vers-Chorus-Aus Schemata. Nein, wir befinden uns mitten in der Story of the Hurricane. Bei Salami gibt es zwar Refrains, die dann oftmals noch einen charmanten Ohrwurmcharakter aufweisen (gleich mehr), aber die geschichtenerzählenden Strophenparts haben eine Länge, wie es eher im Hip Hop Bereich üblich ist. Grund genug also für den Künstler vom bluesigen Folk auch mal zum Rap zu wechseln, wie in Desperate Times, Mediocre Measures zu bestaunen. In seinen Texten geht es auf poetisch chiffrierte Art um Ungleichheit und Ungerechtigkeiten, die der Mann, der in einer Pflegefamilie aufwuchs, am eigenen Leib erfahren musste. Schwarz/weiß, arm/reich, Mann/Frau, Macht/Ohnmacht. Doch über allem thront immer die Liebe. Genreübergreifend ist klar: Salami hat was zu sagen, hören wir hin.

Dann gibt es da eine Nummer namens Is This Hell? – ein Meisterwerk, und nicht mal eine Single – eine 10/10. Wenn Salami beherzt und flink die Saiten zupft, klingt seine Gitarre so pur und ungeschliffen, als säße er direkt neben dem Schallplattenspieler, um ein Exklusiv-Jam für die Hörer*innen zu geben. Im Laufe des Songs unterstützen orchestrale Streicher und vor allem Blechbläser, deren Intensität wellenartig an- und abschwillt, damit Salami in aller Ruhe seine Worte an uns richten kann. Jedes dabei wohl überlegt, zum Grübeln anregend und so verheerend wie eine abgefeuerte Schusswaffe:

I woke up with a riffle
Loaded with history
Duct-taped like a band-aid
To my hands

I had to learn to shoot
Before I learned to stand
And I can’t tell
If this is hell

[…]

It’s hard to make a good decision
When your web of choices have been defiled

Pt. 1? Lässt das etwa auf einen Part 2 schließen? Mit Fortsetzungen ist das ja oftmals so ’ne Sache… Let’s see!

Apropos Ohrwürmer: In dem Moment, in dem die Plattennadel das Vinyl verlässt, spielt die Platte in den Köpfen der Hörer*innen fleißig weiter, verfolgt uns sogar bis ins Bett. Da liegt man also, will eigentlich schlafen und summt stattdessen die Melodien. Songs wie das lady D’Arbanville-eske Lady Winter, das beruhigende Peace Is Fine (hätte auch perfekt in unser nächstes Dreckiges Dutzend „Best of Mental Health Songs“ gepasst) oder das wehklagende Minus His Woman dienen als perfekte Beispiele dafür.

All diese Songs sind ebenso Beispiele für die musikalische Bandbreite des Künstlers. Vom Folk über die bereits erwähnten Abstecher in die Rapwelt (höre dazu auch Systemic Pandemic) hin zu soulig-bluesigen Sounds im flöten-gespickten As before klingt die Musik so unbekümmert und abwechslungsreich wie sie eben klingt, wenn ihr Urheber an Vielem Freude hat außer daran, in Schubladen gesperrt zu werden.

Den würdigen Abschluss des Albums macht das akustische In Honour of the Street Lights, eine fünf minütige Elegie über den (Un)sinn des Lebens mit extrem cleverer Melodieführung. Und so endet Ottoline viel zu früh mit der Erkenntnis:

So in honour of the street lights, we live
But this guitar makes us feel sick
And unless you’re a martyr, like most,
Illumination ain’t much to boast,
cause you’ll be more inconsolable
the more you know.

Schlussfazit nach dem Einstiegsfazit:
Es gibt so Alben, die sind zeitlos. Es gibt so Alben, die keinen schlechten Song enthalten. Beides hat L.A. Salami mit Ottoline geschafft, wobei die Zeitlosigkeit sich natürlich erst noch zeigen muss. Überzeugt davon bin ich schon heute. Mein einziger Kritikpunkt ist dann auch lediglich subjektiver Natur. Die Zwischenspiele (Flying Printers, Muse und Dear Ottoline), die eigentlich eher lyrische Monologe sind – Salami nennt sie Skit (Sketch) bzw. Interlude – hätte es nicht gebraucht. Mich bringen diese Passagen nach einem beglückt entrückten Schweben wieder zurück auf den kalten Boden der Realität. Andere mögen widersprechen, um zu behaupten, diese Balance mache das Album als Gesamtkunstwerk eines Lyrikers gerade erst rund. Und ja, im Interlude Muse, in dem es vordergründig um Liebe geht, sind auch wirklich nachdenkenswerte Sätze der namenlosen Vortragenden (vielleicht Ottoline?) zu hören. Denn people won’t remember what you said or what you did. People will always remember how you made them feel. Und L.A. Salami ist, bei aller Themenschwere als Poet der Straße oder besser: als Poet of the street lights, mit diesen zehn Songs absolut in der Lage, mich richtig gut fühlen zu lassen. Er unterstreicht eindrucksvoll, nicht „bloß ein weiterer Singer/Songwriter“ zu sein. Von dem, was ich persönlich in diesem Jahr an Neuerscheinungen gehört habe, ist Ottoline (bisher!) mein Album 2022. Oder anders: 9/10 Wellenbrecher

Mehr zu L.A. Salami:
Tickets (Deutschland ist mit Berlin und Köln im März 2023 auch dabei)
Musik
Instagram
YouTube

Team Scheisse – Ich habe dir Blumen von der Tanke mitgebracht (jetzt wird geküsst) (2021)

von Alex

Wie ihr vielleicht wisst, mag ich komplexe Musik: Fünf Minuten Nummern oder länger, die Wendungen, Interludes, Breaks und Taktwechsel zu bieten haben. Dazu gerne poetische, relevante Texte mit ordentlich Interpretationspotenzial. Herrlich! Aber wie immer macht eine gesunde Mischung das Leben erst bunt. Wer will schon jeden Tag bedeutungsvolle Schwere? Wie wäre es daher heute mal mit unbekümmerter Leichtigkeit? Und ich so zu mir: Ja, gerne, her damit!

Team Scheisse spielt Punkrock, wie er purer kaum sein könnte und das ist einfach nur geil: Gitarre(n), den Gain-Regler aufgedreht, Schlagzeug, Bass, zackiger Viervierteltakt, stilecht ein bis drei Minuten kurz die Dinger, dazu bellend verzerrter Gesang, der die wiederkehrenden Hooklines in Form von Ohrwürmern ins Bewusstsein der Hörer schießt, fertig. Ich sag nur: „Ich bin Karstadt-Detektiv, ich bin Detektiv bei Karstadt!“

Und weshalb mag ich dieses auf den ersten Blick so schlichte Konzept? So ambivalent der Albumtitel (Blumen! Ach, wie schön! Aber von der Tanke? Igitt, wie unromantisch!), so ambivalent das Werk als solches: Trotz aller musikalischen Schlichtheit ist das Album der Bremer ein absoluter Stimmungsaufheller, der auf jeder Rockparty in Dauerschleife rotieren sollte. Die Gäste würden mit einem breiten Grinsen im Gesicht von der Guacamole auf der Küchenanrichte zum Korn auf dem Couchtisch hüpfen, und dabei unbewusst die Refrains mitgrölen. Katharsis-Punk aus der Box! Es ist beinahe unheimlich, mit welch Ohrwurm-Dichte dieses Album um die Ecke kommt. Der eben schon genannte Karstadtdetektiv ist da nur ein Beispiel. Auch Songs wie 2 blaue Haken, Rein ins Loch (natürlich ist der Text viel subtiler, als es beim Lesen jetzt gerade den Anschein hat, eins der Albumhighlights!) oder Erfurt  bleiben hängen, leben von ihren witzig-originellen, pointierten Texten und den gebetsmühlenartig wiederholten Hooks:

„Da kannst ja gleich nach Erfuhrt zieh’n!“ Sänger und Texter Timo wohnt inzwischen in der besungenen Stadt.

Mich erinnert das Team Scheisse an die frühen Abstürzenden Brieftauben, über die wir im Podcast bereits sprachen (höre hier und nachbetrachte hier). Im Song Frank beispielsweise geht es – heruntergebrochen – um einen schmerzbefreiten Waffendealer bei der Bundeswehr. Und auch die Tauben hatten damals einen bundeswehrideologie-kritischen Song mit demselben Titel im Programm – eben Frank (siehe und höre hier). Zufall oder kleine Hommage? Das Video zum Team-Scheisse-Frank jedenfalls ist großartig: Eine Beauty-Influencerin schminkt sich freudig für ihre Community und erst im Laufe des Clips wird klar, worauf das Ganze hinausläuft:

Ja, bisher ist (zu) wenig bekannt über die Combo, die dem Fun-Punk auf witzig-charmante Weise Leben einhaucht. 2020 produzierte sie ihr Debüt 8 Hobbies für den sozialen Abstieg in Eigenregie – der Karstadtdetektiv war bereits Teil davon. Der Nachfolger nun erschien über Soulforce Records, dem Label vom hip-hop-zentrierten Kitschkrieg-Team; ein bemerkenswerter Move.

In diesem Jahr gab es mit der EP 20:15 dann nochmal neues Futter für die Fangemeinde, die über Instagram unter anderem mit passenden Memes ebenso humorvoll von der Band unterhalten wird wie es die Mucke zu tun vermag. Wetten, dass..?
Auf der EP findet sich unter anderem eine tiefschwarz satirische Abrechnung mit der Kirche, die nachwirkt. Hört gerne mal rein in Gott snoozt.

Im Frühling 2023 geht es für zwölf Termine wieder auf Tour. Dabei bleibt abzuwarten, in welcher Live-Besetzung die Band agiert. In der Vergangenheit gab es da einige Variationen in der Belegschaft.

Fazit:
Aber zurück zum Album: Wie ihr merkt, spiele ich voller Überzeugung im Team Scheisse, denn eigentlich ist das Team gar nicht scheiße. Ganz im Gegenteil! Wenn es die Situation zulässt, ist ihr Zweitling spielend in der Lage, Großes zu bewirken: Nämlich eine kindliche Freude, ehrliche Unbeschwertheit und ein bisschen realen Stumpfsinn in wenig freudige Zeiten zu zaubern. Dafür verdient die Scheibe 8,5/10 Wellenbrecher.

Kontakt Instagram: @teamscheisse