25 Jahre Herzeleid

Was kann man von einer Band halten, die sich nach einem Unglücksort benennt, an dem es 70 Todesopfer zu beklagen gab? Ist diese Betitelung pietätlos oder genial?

In jedem Fall ist es 1995 bereits durchaus etabliert, sich provokant zu benennen. Beispielsweise Die 1983 gegründete Metal-Band „Megadeth“ bediente sich eines Begriffs, der sich während der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg als Einheit für das Vereinfachen des Zählens großer Opferzahlen etablierte (Megadeath). Auch hier wurde nur durch einen Buchstaben eine minimale Verfremdung vorgenommen, ähnlich wie beim überzähligen „M“ im Bandnamen „Rammstein“. „Napalm Death“ greift den stark umstrittenen – insbesondere im sogenannten Vietnam-Krieg angewandten – Einsatz von mit Napalm bestückten Bomben auf.

Die Kritik an derlei Provokation wird bewusst in Kauf genommen, die Ambivalenz von Ablehnung und Neugier ist hier Mittel zum Zweck.

Mitte der Neunziger ist den Menschen der Ort Ramstein als Truppenstützpunkt amerikanischer Soldaten vor allem durch das Unglück auf einer Flugshow aus dem Jahr 1988 in trauriger Erinnerung und die Bilder des Unglücks noch sehr präsent, da an dem Tag vor allem Zivilisten und somit auch Familien als Besucher vor Ort waren, als zwei Flugzeuge einer italienischen Flugstaffel in der Luft kollidierten und anschließend explodierend zu Boden stürzten und dabei brennende Teile und Kerosin in die Menge der panischen Zuschauer fielen.

„Rammstein – Ein Mensch brennt – Fleischgeruch liegt in der Luft – Ein Kind stirbt – Die Sonne scheint“. [Auszug aus dem Lied „Rammstein“]

Das Ausschlachten menschlicher Unglücke zu kommerziellen Zwecken kann und wird von vielen Bands gerne hübsch verpackt und als Sozialkritik gelabelt erfolgreich vermarktet.

Aber was war die Absicht hinter der Benennung nach einem Unglücksort und dem entstandenen Lied zum Bandnamen? War es die Absicht eine Sozialkritik zu üben? Die wenigen Aussagen der Band dazu sind so spärlich wie verständlich. Es war halt eine Idee, von welcher man letztlich nicht mehr wegkam. Wer selber mal versucht hat einen passenden Namen für die eigene Band oder ähnliches zu finden, der weiß, dass es nicht selten tatsächlich genau so abläuft und dass sich der Ursprung des Namens später nur diffus festmachen lässt.

Ob die Präsenz der Bilder des Unglücks bei einzelnen Bandmitgliedern oder eine Ablehnung solcher Unterhaltungs-Veranstaltungen eine Rolle spielten, bleibt leider unklar. Natürlich sind Flugshows ein zweifelhaftes Vergnügen. Nicht nur, dass sie als militärisches Muskelspiel interpretiert werden können. Die Gefahr, die nicht nur die Piloten, sondern auch die Zuschauer in Kauf nehmen, ist offensichtlich, scheint jedoch genau der Reiz zu sein, der nicht wenige Menschen zu diesen Flugshows treibt, die seit dem Unglück in Deutschland 1988 in dieser Form nur noch selten und unter Auflagen stattfinden dürfen. Betrachtet man es positiv, so könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass die Band durch ihre Benennung die Erinnerung an das Ereignis durch die entstandene Kontroverse sogar eher Aufrecht hält, wodurch sich auch eine kritische Haltung gegenüber dem Vergnügen an Ereignissen wie Flugschauen entwickeln kann. Insofern kann man den Namen der Band und den dazu passenden Track 11 auf dem Debüt-Album „Herzeleid“ durchaus als Sozialkritik verstehen und sogar als eine Art ersten erfolgreichen Wirkungstreffer der Band werten. Es ist nicht nur so, dass Menschen mit ihren Kindern militärische Flugparaden besuchen und allein durch diesen Besuch die drohende Gefahr verneinen, sondern ist es außerdem erwartbar, dass beim Finger-in-die-Wunde-Legen bei den Kritisierten eher Empörung statt kritischer Selbstreflexion einsetzt.

So kann man der Band letztlich vorwerfen, dass sie die Opfer des Unglücks durch die Manege ziehen und dadurch natürlich auch Angehörige der Opfer vor den Kopf stoßen, gleichzeitig allerdings den Schwachsinn und die Naivität von Sensationsexzessen im Vergnügungssektor angreifen.

Das Album erschien am 25. September 1995, also vor 25 Jahren. Die Ambivalenz beherrscht die Band von Beginn an nahezu perfekt. Allein der Albumtitel im Kontrast zum Cover und dem, was dann musikalisch geboten wird, spricht für sich. „Herzeleid“ könnte auch ohne weiteres der Titel einer Kompilation romantischer deutscher Schlager sein, ist aber der Beginn des „Tanzmetalls“ einer der zur Zeit erfolgreichsten deutschen Bands.

Über die Rolle der Provokation tauschen wir uns auch in der Besprechung des Albums „Herzeleid“ in der ersten Folge unseres Podcasts aus.

Mit dem Einzelhandel durch das Amazonasgebiet

von Alex

Unlängst offenbarte ich einem Mitzwanziger, dass ich weder Spotify noch Amazon Music nutze. Kurz zuckte Verunsicherung durch sein Gesicht. Dann ein wissendes Lächeln: „itunes?“ Doch als ich auch dies verneinte, war die Ungläubigkeit groß. Nach einer kurzen, bedeutungsschweren Pause, die drängende Frage: „Und wie hörst du dann Musik?“

Ja, Freundinnen und Freunde, es ist wie es ist: Die fetten Jahre der Tonträger sind vorbei. Ziehen wir einen Vergleich zur Automobilbranche könnte man wie folgt konstatieren:

Die Kassette ist der Trabant: Zweckmäßig, aber defizitär. Deshalb längst von der Bildfläche verschwunden.

Die Schallplatte ist der Oldtimer: Alte Technik erhält neue Aufmerksamkeit. Für Hipster und/oder Nostalgiker

Die CD ist der Diesel: Noch voll funktionstüchtig, aber niemand will sie/ihn.

Streaming (oder anders: Musik-Tinder) ist hingegen auf dem Vormarsch. Auch im Podcast sprachen wir in Session #1 über die Transformation. Mit dieser Erkenntnis wurde ich doch etwas sentimental und dachte an früher (Stichwort Nostalgiker). Wie schön war es, in Plattenläden zu stöbern: Unbedarft zum Trenn-Schildchen “F Sonstige“ gehen, die Tonträger mit den Fingern durchblättern wie die Jungs aus der Big Bang Theory ihre Comics („hab ich, hab ich, hab ich, hab ich…“), eine Scheibe völlig irrational aufgrund des ansprechenden Covers herauspicken (Wer ist das? Flaw? Nie gehört. Through the eyes?) und einfach mal reinhören…. bäm!

Nichts von wegen Algorithmus, nichts mit „das könnte Ihnen auch gefallen“. Wenn mir jemand gesagt hat, was mir auch gefallen könnte, dann höchstens meine Kumpels. Und sonst niemand.

Also entschied ich, kurz vor Corona, den so wichtigen Erhalt des Einzelhandels zu unterstützen, indem ich meine in diesem Fall bewusst ausgewählten CDs eben nicht emotionslos im Netz bei Amazon bestelle, sondern beim kleinen Laden nebenan kaufe.

Doch dann die erste Enttäuschung: Der Plattendealer meines Vertrauens, der nebenbei bemerkt nicht so ganz nebenan ist, weshalb ich vorsichtshalber vorher anrief, hatte beide Scheiben nicht vor Ort. Es handelte sich um das Debütalbum der Black Pumas (mehr dazu im Podcast Session 2 und im Blog-Bereich Tipp aus’m Pit)

und um die Teskey Brothers (Half Mile Harvest). Foto: siehe unten.

Zugegeben, weit weg vom Mainstream, aber auch wenig experimentell. Mir wurde prompt empfohlen, das Online-Bestellsystem zu durchforsten. Toll, dass es ein solches gibt, dachte ich gleich begeistert. Aber: Auch hier Fehlanzeige.

Zweiter Anruf. Mein Plattendealer hätte die CDs zwar “extra für mich“ bestellen können, aber da ich bisher kein offiziell registrierter Kunde war, sollte ich mir vorab im Laden ein Konto anlegen und mich – wie es sich für einen gewöhnlichen CD-Käufer gehört – ausweisen (!). Mein Vorschlag, beide Alben einfach per Vorkasse zu bezahlen, zog nicht. Also fragte ich Marco, der bereits ein registrierter Kunde ist und deutlich näher dran wohnt, ob er die CDs für mich bestellen könnte, was er netterweise tat. Dann eineinhalb Wochen lang Funkstille. Diese Ungewissheit nagte an mir, bis Marco endlich die erlösende Nachricht bekam. Es hatte ein bisschen was von: „Möchtest du diese Rose?“ Ja, verdammt! Die (Vor-)Freude war groß. Als er in den Laden ging, um die Bestellung abzuholen, war zur allgemeinen Enttäuschung nur eine CD angekommen. Die zweite kam eine weitere Woche später. Hieß, Beine in die Hand und nochmal hin. Also Marco jetzt.

Das Warten hat sich gelohnt: Die beiden Objekte der Begierde

Was hab ich mich gefreut, als ich die CDs erstmals einschieben durfte. Das Ganze hatte also auch etwas Gutes und das meine ich völlig ironiefrei:

Erstens lernte ich neu, den Wert von Dingen zu schätzen (The Everything Store hin oder her: Nicht alles auf der Welt ist zu jeder Tag- und Nachtzeit binnen Stunden verfügbar, yippie!).

Zweitens habe ich eine heute oft verloren gegangene Tugend wieder erlangt: Geduld.

Und die Moral von der Geschicht‘? Trotz dessen ich weiterhin glühender Verfechter des vor-Ort-Plattenladen-Stöberns bin, sollte der Einzelhandel, wenn ich als Kunde doch mal etwas Spezielles suche, weniger auf Tante Amazon und Co. schimpfen, sondern vielmehr vom Onlinehandel lernen. Denn der Kunde kauft gewiss nicht dort, weil der Name des Flusses so schön klingt.

Was hier entsteht:

Auf diesen Seiten wird in Kürze der Musik-Podcast „Wellenbrecherbereich“ seine Heimat finden. Zur Zeit ist das nur der Rohbau. Echte Inhalte folgen in Kürze.

Wir freuen uns, dass es endlich losgeht!