von Alex

Tracklist:
Herzilein
Ist das nicht himmlisch
Oben auf der Hütte
Ich lieb‘ dich immer noch
Wach‘ auf, der Frühling klopft
Weil wir Freunde sind
Hallo, Frau Nachbarin
Dann träum‘ ich mir die Sorgen weg
Dann schmeckt die Maß doppelt so gut
Ich fange deine Tränen mit meinem Herzen auf
Rück‘ ein bisschen näher
Geh nicht mehr fort
Nein, wir sind nicht völlig wahnsinnig geworden – das waren wir schon immer. Aber Spaß beiseite: Dass ich hier und heute das Debütalbum des nordhessischen Volksmusiker-Duos rezensiere, liegt einzig und allein daran, dass ich in unserer Folge #77 (Trends & Hypes in der Musik; höre im Stream oder hier) das Abschlussquiz verloren habe. Und Wettschulden sind bekanntlich Ehrenschulden.
Im Laufe der Jahre musste ich für den Wellenbrecherbereich bereits einige Bestrafungen erleiden, aber diese hier war ganz besonders schmerzhaft. Das Reaction Video auf den Song Herzilein war zum lockeren Einstieg ja noch in Ordnung – siehe hier:
Doch was das Liedchen bereits andeutete, vollendet das gleichnamige, platinausgezeichnete Album in erschreckend konsequenter Präzision. Vorab: Natürlich war mir bereits vor Abspielen des ersten Tons klar, dass mich hier keine musikalischen oder textlichen Leckerbissen erwarten würden, aber dass wir im Prinzip mit schlichtesten Keyboard-Kompositionen, bei denen der Songwriter offenbar – ähnlich wie Marco, Felix und ich als Kinder auf unseren kleinen Casio-Geräten -, an der richtigen Stelle einfach den Fill-In- oder den Abschlussdrumfill-Knopf gedrückt hat, ist schon erstaunlich primitiv und uninspiriert.
Die Wildecker Herzbuben – Mötley Crüe der Volksmusik
Damit ist musikalisch alles gesagt. Und textlich sind wir gar nicht so weit weg vom frauenfeindlichen Gehabe namhafter Rockbands der 80er und 90er. Guns n Roses oder eben auch Mötley Crüe.
Nur statt Gitarrensoli gibt’s nervtötende Akkordeon- und Trompetenmelodien vom Keyboard, statt Lederjacken, Ledertrachten. Die Botschaft indes ist eine ähnliche: Ob nun Herzilein, Hallo, Frau Nachbarin oder Rück‘ ein bisschen näher: Die Herzbuben Wilfried Gliem und Wolfgang Schwalm wandeln mit ihren Künstler Alter Egos zwischen sexueller Nötigung, Stalking, Fremdgehen und Ehebrechen. Nice!
Und überhaupt: Wach‘ auf, der Frühling klopft, Rück‘ ein bisschen näher, Geh nicht mehr fort – als Partnerin eines Herzbuben hat man in der Diktatur des Imperativs ganz schön vielen Befehlen Folge zu leisten.
Konkret zu Herzilein habe ich mich ja im Reaction-Video geäußert. Ein Song, der damals sicher niemandem wehtun wollte, aber der doch ein katastrophal rückständiges Bild der Frau zeichnet. Pearl Jams Better Man (1994) setzt den Schwerpunkt der Geschichte da eindeutig fortschrittlicher. Der Mann nicht als „Opfer“ seiner eigenen Feierwut, sondern als Täter:
Weitere Themen
Dem nicht genug wird in vielen Songs – ebenso parallel zu vielen Rockbands – deutlich: Einen Hang zum Alkohol hat das Schlager-Duo auch (exemplarische Referenzen: Herzilein, Hallo, Frau Nachbarin, Dann schmeckt die Maß doppelt so gut)!
Doch selbst wenn jene Klischees mal kurzzeitig verlassen werden, bleibt es schlimm. Es folgen die nächsten erwartbaren Plattitüden: Erst Naturverbundenheit (Wach‘ auf, der Frühling klopft) und direkt anschließend Männerfreundschaft (Weil wir Freunde sind). Spätestens hier wünscht man sich die Stockfoto-Lyrik von ZSK oder den Broilers zurück (höre unsere Folge #57 hier ).
Im zuletzt genannten Song stellen wir fest: Bei den Herzbuben stammen sogar die Pfeif-Arrangements aus der Konserve. Ganz abgesehen davon wissen doch alle, dass einzig und allein Mike + the Mechanics bitteschön ein Monopol auf großartig melodiöses Pfeifen haben:
Sonstige Schmankerl?
In Ich lieb dich immer noch besingen unsere Trachten-Casanovas eine Ex-Freundin, die sie unbedingt zurückgewinnen wollen. Denn natürlich ist die Angebetete beim Falschen gelandet. So kommen sie auf die glorreiche Idee, der „Abtrünnigen“, die auf dem Markt Blumen verkauft, Achtung jetzt kommt’s: Blumen zu schenken. Da muss man auch erstmal drauf kommen. Vielen Dank für die Blumen! Udo Jürgens würde sich im Grabe umdrehen.
Fazit
Böse gesprochen könnte man Herzilein einen musikalisch primitiven Soundtrack für angetrunkene Incels nennen. Bettet man das Album jedoch in seinen zeitlichen Kontext ein, bin ich gnädiger. Beim digitalen Abspielen vieler Hörspiele aus lange vergangenen Dekaden gibt es inzwischen Disclaimer, die darauf hinweisen, dass die Sprache, die benutzt wurde, damals wie heute zwar teils diskriminierend war, aber dass die Aufnahme eben ein „Produkt seiner Zeit“ war. All dies möchte ich den Wildecker Herzbuben und ihren Produzenten und Komponisten selbstredend auch zugestehen (gut, Peter Alexander fand den Song Herzilein Ende der 80er schon problematisch und wollte ihn nicht singen!). Klammert man das rückständige Frauenbild, das hier in Neonfarben gezeichnet wird, mal aus, bleibt das Album musikalisch wie textlich eintönig, schlicht und lieblos. Bewertung unmöglich. Drumfill – Schluss!