Steven Wilson in der Sporthalle Hamburg, 3.6.2025

von Alex

Ihr habt es mitbekommen: Ich feiere die Musik von Steven Wilson im Podcast schon lange ab (höre zum Beispiel hier), aber was der Engländer da gestern in Hamburg abgerissen hat, war nicht mehr von dieser Welt – und damit sind wir auch schon voll im Thema.

Musik zum Abheben
Das aktuelle Album Wilsons als Solokünstler – The Overview – wurde als Konzeptalbum angelegt. Und es ist so sperrig wie verrückt geworden. Wir hören hier zwei unendlich lange Songs (Objects outlives us und The Overview), die uns auf eine Reise ins Weltall mitnehmen. In Anlehnung an David Bowie fragt er: Gibt es Leben dort? Und genau diese Reise durften die Wilson Fans gestern live erleben. Für die Passagiere war die komplette Sporthalle – also auch der Innenraum – bestuhlt, was für eine Rockshow erstmal gewöhnungsbedüftig anmutet. Dann noch die Glockenmelodie im Foyer, die den „Flugstart“ ankündigt und wir fühlen uns plötzlich wie im Theater. Und wer sich vorab nicht mit der Idee hinter Wilsons Tour beschäftigt hat, dürfte schnell mit offenem Mund auf seinem Stuhl gesessen haben: Nicht nur spielte er quasi das komplette Album mit seiner kongenialen Band ansatzlos on point runter (über 40 verdammte Minunten ohne Pause!), das Spektakel wurde zu einer Art audiovisueller Installation, da jeder einzelne Ton eingebettet war in wunderschön kreierte Videosequenzen zum Thema Weltall, gezeigt auf einer gigantischen Leinwand über der Bühne in bestechender Auflösung. Jeder Ton saß, musikalisch wie gesanglich, jeder Effekt traf ins Mark (zumindest fast, gleich mehr!) und war perfekt mit den Bildern abgestimmt. Wer selber Musik macht, weiß, was das für eine Mummutaufgabe und Leistung ist. Wilson ist nicht nur ein autodidaktischer Multiinstrumentalist, er ist ein Sound-Farmer, ein Ton-Flüsterer – selten bis nie habe ich ein Live-Konzert gehört, in dem jedes noch so zarte Tönchen kristallklar und in seiner richtigen Dramaturgie erklang. Überragend. Beschreibe ich mit Worten das Hör-und Sehrerlebnis versuche ich es mit: Die Acid-Beatles „in the sky“ with Diamonds. Danach Pause – für die Band nach gut 40 Minunten „ridicoulsy complicated music“ am Stück (Zitat Wilson) und für die auf die Erde zurückgekehrten Passagiere.

Der zweite Teil: Quer durch die Vita ohne „Best Of“ Nostalgie
Apropos „ridiculously complicated“: Die Choreographie zwischen Musik auf höchstem Niveau und farbgewaltigen Bildern erinnerte an Tool, doch während die Kalifornier auch zwischen den Songs wortkarg bleiben, zeigt sich Wilson nach Beendigung der Raumfahrt in der zweiten Halbzeit gut gelaunt und witzig. Einer Frau, die ihm zurief, sie sei bereits auf 17 Konzerten der Tour gewesen zu sein, erwidert er, er sei ein wenig enttäuscht, da sie ja offenbar sechs Show verpasst habe. Dann fragt er, wer denn quasi „versehentlich“ bei ihm gelandet sei – als Anhang des eigentlichen Fans. Als sich ein paar Menschen melden, ermutigt er, „seid ehrlich: Wer fragt sich, ob unsere Band eigentlich auschließlich 30 Minuten lange Songs spielt, die eben auch noch „ridiculously complicated“ sind? Für all diejenigen, die sich grinsend melden, soll der nächste Song sein: Eine radiotaugliche Wilson-Nummer. Doch dann der Schock: Das Pedalboard des Chefs streikt und selbst der Tontechniker kann die für den Song benötigten Effekte nicht wieder zum Leben erwecken. Der Song, es wird nicht erwähnt welcher es gewesen wäre, muss ausfallen – der klare Nachteil, wenn eine Show komplett durch choreographiert ist. Ich schätze, es wäre Pariah gewesen, das so radiotauglich ist, das Wilson mit Ninet Tayeb (auch schon in Podcast und Blog erwähnt; lese hier), mit der Nummer 2017 sogar im ZDF Morgenmagazin auftrat:

Nachdem der Mainstream am gestrigen Abend also ausfällt, geht es weiter progrockig durch Wilsons Schaffensvita. Er erklärt, dass er seine Band Porcupine Tree damals als One Man Band gegründet hat, und dass die Bandmitglieder erst deutlich später dazukamen – wie bei Grohl und seinen Foo Fighters. Aus dieser Anfangszeit werden zwei Songs gespielt (Voyage 34 und Dislocated Day), ehe auch Solo Wilson Songs präsentiert werden, ein absolutes Highlight dabei: Impossible Tightrobe, bei dem Wilson attestiert, dass sein Credo sei, „immer der schlechteste Musiker in seiner eigenen Band zu sein“ und dass diese Nummer an dem Abend für ihn die schwierigste sei und er sie ganz sicher „versauen“ würde. Ich schätze es ging hier um die unfassbar hohen Gesangspassagen, die aber mit Bravur gemeistert wurden. Und so absurd es klingen mag, war Wilson neben seinen vier Kollegen wahrscheinlich wirklich der „schlechteste“ Musiker auf der Bühne, aber ziemlich sicher der mit Abstand beste Komponist.

So vergeht der Abend, der mit einer sehr weiten Reise begann und in einem Diskographie-Picking endete, wie im – Achtung – Fluge. Als die Musik immer stärker beginnt zu rocken, hält es auch die Fans nicht mehr auf den Schleudersitzen. Nach der letzten Nummer gibt es folgerichtig Standing Ovations (siehe Foto oben), bis die Band für zwei letzte Songs auf die Bühne kommt. An dieser Stelle freut sich Wilson, dass er eben keine klassischen „Best Ofs“ hat und er zum Abschied spielen kann, was immer er möchte. Bei Guns n Roses und Lynyrd Skynyrd sei das anders. Und so hat seine allerletzte Nummer auch irgendwie mit einem Free Bird zu tun: The Raven that refused to sing – begleitet vom animierten Video des alten Mannes, der um seine als Kind verstorbene Schwester trauert – lässt den Saal nochmal mucksmäuschenstill werden und ich blicke mich um, ob irgendwo irgendwer Zwiebeln schneidet.