L.A. Salami – Ottoline (2022)

von Alex

Ein Wort: Wow! Aus gegebenem Anlass beginne ich einfach mal mit dem Fazit, denn was der Londoner Lookman Adekunle Salami – kurz L.A. Salami – auf seinem neuen Longplayer – veröffentlicht im Oktober – musikalisch und textlich auf das Vinyl zaubert, ist schlicht atemberaubend. Das inzwischen vierte Studioalbum – betitelt nach dem altertümlichen weiblichen Vornamen Ottoline (ausgesprochen: Ottolyn) -, produziert in Tschechien, klingt, als wäre der Bob Dylan der Sechziger Jahre in die Neuzeit gereist. Wir hören folkige Akustikgitarren, vereinzelt Mundharmonika, unterstützende Streicher und Bläser ebenso wie gerappte Textpassagen auf Elektro-Beats und Samples.

Salami ist – ähnlich wie Dylan – kein Mann für Vers-Chorus-Vers-Chorus-Aus Schemata. Nein, wir befinden uns mitten in der Story of the Hurricane. Bei Salami gibt es zwar Refrains, die dann oftmals noch einen charmanten Ohrwurmcharakter aufweisen (gleich mehr), aber die geschichtenerzählenden Strophenparts haben eine Länge, wie es eher im Hip Hop Bereich üblich ist. Grund genug also für den Künstler vom bluesigen Folk auch mal zum Rap zu wechseln, wie in Desperate Times, Mediocre Measures zu bestaunen. In seinen Texten geht es auf poetisch chiffrierte Art um Ungleichheit und Ungerechtigkeiten, die der Mann, der in einer Pflegefamilie aufwuchs, am eigenen Leib erfahren musste. Schwarz/weiß, arm/reich, Mann/Frau, Macht/Ohnmacht. Doch über allem thront immer die Liebe. Genreübergreifend ist klar: Salami hat was zu sagen, hören wir hin.

Dann gibt es da eine Nummer namens Is This Hell? – ein Meisterwerk, und nicht mal eine Single – eine 10/10. Wenn Salami beherzt und flink die Saiten zupft, klingt seine Gitarre so pur und ungeschliffen, als säße er direkt neben dem Schallplattenspieler, um ein Exklusiv-Jam für die Hörer*innen zu geben. Im Laufe des Songs unterstützen orchestrale Streicher und vor allem Blechbläser, deren Intensität wellenartig an- und abschwillt, damit Salami in aller Ruhe seine Worte an uns richten kann. Jedes dabei wohl überlegt, zum Grübeln anregend und so verheerend wie eine abgefeuerte Schusswaffe:

I woke up with a riffle
Loaded with history
Duct-taped like a band-aid
To my hands

I had to learn to shoot
Before I learned to stand
And I can’t tell
If this is hell

[…]

It’s hard to make a good decision
When your web of choices have been defiled

Pt. 1? Lässt das etwa auf einen Part 2 schließen? Mit Fortsetzungen ist das ja oftmals so ’ne Sache… Let’s see!

Apropos Ohrwürmer: In dem Moment, in dem die Plattennadel das Vinyl verlässt, spielt die Platte in den Köpfen der Hörer*innen fleißig weiter, verfolgt uns sogar bis ins Bett. Da liegt man also, will eigentlich schlafen und summt stattdessen die Melodien. Songs wie das lady D’Arbanville-eske Lady Winter, das beruhigende Peace Is Fine (hätte auch perfekt in unser nächstes Dreckiges Dutzend „Best of Mental Health Songs“ gepasst) oder das wehklagende Minus His Woman dienen als perfekte Beispiele dafür.

All diese Songs sind ebenso Beispiele für die musikalische Bandbreite des Künstlers. Vom Folk über die bereits erwähnten Abstecher in die Rapwelt (höre dazu auch Systemic Pandemic) hin zu soulig-bluesigen Sounds im flöten-gespickten As before klingt die Musik so unbekümmert und abwechslungsreich wie sie eben klingt, wenn ihr Urheber an Vielem Freude hat außer daran, in Schubladen gesperrt zu werden.

Den würdigen Abschluss des Albums macht das akustische In Honour of the Street Lights, eine fünf minütige Elegie über den (Un)sinn des Lebens mit extrem cleverer Melodieführung. Und so endet Ottoline viel zu früh mit der Erkenntnis:

So in honour of the street lights, we live
But this guitar makes us feel sick
And unless you’re a martyr, like most,
Illumination ain’t much to boast,
cause you’ll be more inconsolable
the more you know.

Schlussfazit nach dem Einstiegsfazit:
Es gibt so Alben, die sind zeitlos. Es gibt so Alben, die keinen schlechten Song enthalten. Beides hat L.A. Salami mit Ottoline geschafft, wobei die Zeitlosigkeit sich natürlich erst noch zeigen muss. Überzeugt davon bin ich schon heute. Mein einziger Kritikpunkt ist dann auch lediglich subjektiver Natur. Die Zwischenspiele (Flying Printers, Muse und Dear Ottoline), die eigentlich eher lyrische Monologe sind – Salami nennt sie Skit (Sketch) bzw. Interlude – hätte es nicht gebraucht. Mich bringen diese Passagen nach einem beglückt entrückten Schweben wieder zurück auf den kalten Boden der Realität. Andere mögen widersprechen, um zu behaupten, diese Balance mache das Album als Gesamtkunstwerk eines Lyrikers gerade erst rund. Und ja, im Interlude Muse, in dem es vordergründig um Liebe geht, sind auch wirklich nachdenkenswerte Sätze der namenlosen Vortragenden (vielleicht Ottoline?) zu hören. Denn people won’t remember what you said or what you did. People will always remember how you made them feel. Und L.A. Salami ist, bei aller Themenschwere als Poet der Straße oder besser: als Poet of the street lights, mit diesen zehn Songs absolut in der Lage, mich richtig gut fühlen zu lassen. Er unterstreicht eindrucksvoll, nicht „bloß ein weiterer Singer/Songwriter“ zu sein. Von dem, was ich persönlich in diesem Jahr an Neuerscheinungen gehört habe, ist Ottoline (bisher!) mein Album 2022. Oder anders: 9/10 Wellenbrecher

Mehr zu L.A. Salami:
Tickets (Deutschland ist mit Berlin und Köln im März 2023 auch dabei)
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Team Scheisse – Ich habe dir Blumen von der Tanke mitgebracht (jetzt wird geküsst) (2021)

von Alex

Wie ihr vielleicht wisst, mag ich komplexe Musik: Fünf Minuten Nummern oder länger, die Wendungen, Interludes, Breaks und Taktwechsel zu bieten haben. Dazu gerne poetische, relevante Texte mit ordentlich Interpretationspotenzial. Herrlich! Aber wie immer macht eine gesunde Mischung das Leben erst bunt. Wer will schon jeden Tag bedeutungsvolle Schwere? Wie wäre es daher heute mal mit unbekümmerter Leichtigkeit? Und ich so zu mir: Ja, gerne, her damit!

Team Scheisse spielt Punkrock, wie er purer kaum sein könnte und das ist einfach nur geil: Gitarre(n), den Gain-Regler aufgedreht, Schlagzeug, Bass, zackiger Viervierteltakt, stilecht ein bis drei Minuten kurz die Dinger, dazu bellend verzerrter Gesang, der die wiederkehrenden Hooklines in Form von Ohrwürmern ins Bewusstsein der Hörer schießt, fertig. Ich sag nur: „Ich bin Karstadt-Detektiv, ich bin Detektiv bei Karstadt!“

Und weshalb mag ich dieses auf den ersten Blick so schlichte Konzept? So ambivalent der Albumtitel (Blumen! Ach, wie schön! Aber von der Tanke? Igitt, wie unromantisch!), so ambivalent das Werk als solches: Trotz aller musikalischen Schlichtheit ist das Album der Bremer ein absoluter Stimmungsaufheller, der auf jeder Rockparty in Dauerschleife rotieren sollte. Die Gäste würden mit einem breiten Grinsen im Gesicht von der Guacamole auf der Küchenanrichte zum Korn auf dem Couchtisch hüpfen, und dabei unbewusst die Refrains mitgrölen. Katharsis-Punk aus der Box! Es ist beinahe unheimlich, mit welch Ohrwurm-Dichte dieses Album um die Ecke kommt. Der eben schon genannte Karstadtdetektiv ist da nur ein Beispiel. Auch Songs wie 2 blaue Haken, Rein ins Loch (natürlich ist der Text viel subtiler, als es beim Lesen jetzt gerade den Anschein hat, eins der Albumhighlights!) oder Erfurt  bleiben hängen, leben von ihren witzig-originellen, pointierten Texten und den gebetsmühlenartig wiederholten Hooks:

„Da kannst ja gleich nach Erfuhrt zieh’n!“ Sänger und Texter Timo wohnt inzwischen in der besungenen Stadt.

Mich erinnert das Team Scheisse an die frühen Abstürzenden Brieftauben, über die wir im Podcast bereits sprachen (höre hier und nachbetrachte hier). Im Song Frank beispielsweise geht es – heruntergebrochen – um einen schmerzbefreiten Waffendealer bei der Bundeswehr. Und auch die Tauben hatten damals einen bundeswehrideologie-kritischen Song mit demselben Titel im Programm – eben Frank (siehe und höre hier). Zufall oder kleine Hommage? Das Video zum Team-Scheisse-Frank jedenfalls ist großartig: Eine Beauty-Influencerin schminkt sich freudig für ihre Community und erst im Laufe des Clips wird klar, worauf das Ganze hinausläuft:

Ja, bisher ist (zu) wenig bekannt über die Combo, die dem Fun-Punk auf witzig-charmante Weise Leben einhaucht. 2020 produzierte sie ihr Debüt 8 Hobbies für den sozialen Abstieg in Eigenregie – der Karstadtdetektiv war bereits Teil davon. Der Nachfolger nun erschien über Soulforce Records, dem Label vom hip-hop-zentrierten Kitschkrieg-Team; ein bemerkenswerter Move.

In diesem Jahr gab es mit der EP 20:15 dann nochmal neues Futter für die Fangemeinde, die über Instagram unter anderem mit passenden Memes ebenso humorvoll von der Band unterhalten wird wie es die Mucke zu tun vermag. Wetten, dass..?
Auf der EP findet sich unter anderem eine tiefschwarz satirische Abrechnung mit der Kirche, die nachwirkt. Hört gerne mal rein in Gott snoozt.

Im Frühling 2023 geht es für zwölf Termine wieder auf Tour. Dabei bleibt abzuwarten, in welcher Live-Besetzung die Band agiert. In der Vergangenheit gab es da einige Variationen in der Belegschaft.

Fazit:
Aber zurück zum Album: Wie ihr merkt, spiele ich voller Überzeugung im Team Scheisse, denn eigentlich ist das Team gar nicht scheiße. Ganz im Gegenteil! Wenn es die Situation zulässt, ist ihr Zweitling spielend in der Lage, Großes zu bewirken: Nämlich eine kindliche Freude, ehrliche Unbeschwertheit und ein bisschen realen Stumpfsinn in wenig freudige Zeiten zu zaubern. Dafür verdient die Scheibe 8,5/10 Wellenbrecher.

Kontakt Instagram: @teamscheisse

Eddie Vedder – Earthling (2022)

von Alex

Zugegeben, selten musste ich mir für eine Rezension so viele Gedanken hinsichtlich der Strukturierung machen wie zum aktuellen Soloalbum des Pearl Jam Frontmanns. Dies hat hauptsächlich drei Gründe:

1.: Auf diesem Album geht so unglaublich viel vor sich – musikalisch wie personell -, dass der Rezensent schnell Gefahr läuft, wichtige Aspekte auszulassen.
2.: Ich wollte – nein, ich konnte nach mehrmaligem Hören – nicht vollumfänglich in die Lobeshymnen vieler Fans und Kritiker mit einsteigen (ein Sakrileg?).
3.: Als langjähriger Pearl Jam Sympathisant und eingefleischter Eddie Vedder Fan war ich um ganz besondere Objektivität bemüht (funktioniert in der persönlichen Wahrnehmung von Musik natürlich nicht!).

All dies im Hinterkopf behaltend, möchte ich mit einem Zitat von Bono beginnen, der einmal sagte:
„Die Wut ist eine fundamentale Komponente von Rock ’n‘ Roll. Viele große Rockbands hatten sie. Daher waren The Who auch so großartig. Oder Pearl Jam. Eddie Vedder hat diese Wut.“

Auch für mich ist Eddie Vedder klar einer der bedeutendsten Rocksänger der letzten 30 Jahre und seine Texte und Botschaften sind bis heute großes Kino – auf Earthling sind sie wieder sehr angriffslustig. Stark! Aber diese von Bono beschriebene Wut in der Stimme scheint kaum mehr existent zu sein. Wer will es ihm nach all den Jahren, Jahrzehnten, verdenken? Wer kann schon sein ganzes Leben lang wütend sein und klingen? Eddies “neue“ Gesangslinien, in denen er mehr haucht als singt und die letzte Silbe der Textzeile uninspiriert in die Länge zieht wie Kaugummi, als wäre ihm keine bessere Idee gekommen, scheint inzwischen der Standard zu sein. Dazu technisch tadellose, aber wenig lebendige Gitarrenriffs, die niemanden mehr ernsthaft piksen können. Im Pearl Jam Kosmos gab es auf den letzten Veröffentlichungen viel zu viel davon: Zu mutlos, zu zahnlos, zu brav, vollkaskoversicherter Dad-Rock. Beispiele zu zahlreich, um sie zu nennen. Und es tut mir weh, das zu sagen.

Auf Earthling gehen Songs wie Power of Right oder auch Brother the Cloud nun wieder in eben diese Richtung. Dabei thematisieren beide wichtige Themen. Letzterer behandelt auf beeindruckende Weise den Verlust von lieben Menschen (wie gesagt: Texte weiterhin top!).

Besser umgesetzt ist das Rockthema in Songs wie Rose of Jericho oder Good and Evil, dem wohl härtesten, schnellsten Song des Albums. Hier lodert Eddies Wut doch noch einmal kurz auf (Save you meets Do the evolution meets Spin the black circle):

es lohnt sich, genauer hinzuhören! Auch hier wieder ein starker Text!

Doch muss es immer Wut und Hardrock sein? Nein! Ganz im Gegensteil. Aber auch die einzige waschechte Ballade zündet nicht. The Haves beginnt vielversprechend, wird aber schnell so beliebig wie (fast!) alle Pearl Jam Balladen, die nach Just Breathe das Licht der Welt erblickten.

Und dabei hat Eddie sich extra prominente Unterstützung geholt, vermutlich um genau diese PJ-Vergleiche zu vermeiden. Etwas flapsig könnte man gar behaupten, hier ein neues Chili Peppers Werk vor sich zu haben. Denn alle Songs wurden mit komponiert von Ex-Chilischote und Multiinstrumentalist Josh Klinghoffer (siehe rechts im Video unten: Gitarre/Piano), der auch für diverse Gitarren, für Klavier, Bass und einige Keyboardsounds verantwortlich war, während das Schlagzeugspiel von niemand Geringerem als Chad Smith stammt (siehe auch Video unten). Auch der 31-jährige Wunderknabe Andrew Watt (siehe auch Video unten, links) komponierte munter mit. Ein cleverer Schachzug, sich für das Soloprojekt eine homogene Band ins Haus zu holen, die nicht Pearl Jam heißt. Am besten ist die Platte dennoch, wenn Eddie und Konsorten dem reinen Rock abschwören und andere Töne anschlagen. Dann ist die sie nämlich richtig, richtig gut. Also, genug der negativen Worte, was gefällt?

Genre-Potpourri
Im Opener Invincible mimt Eddie die Ground Control: Can you hear? Are we clear? Cleared for lift off, takeoff! Wir heben mit unserer Zeitkapsel ab in den 15 Jahre alten „Into the Wild“ Kosmos (grandioser Soundtrack und Film damals!). Unverhofft sehe ich Alexander Supertramp AKA Christopher McCandless wieder vor seinem Magic Bus sitzen. Nur mit dem Unterschied, dass es dieses mal nicht alleine nach „Alaska Alaska“ geht, sondern mit der ganzen Band in den Orbit: Akustikgitarren, flowende Drums, Eddies Timbre und akkurat platzierte Ahahaha’s sorgen für vertraute Wärme, gute Laune und Vorfreude. Ein gelungener Start ins Album.

Invincible when we love! We got the heavens, we got the Earth and in between we got big surf! So schaut’s aus!

Apropos Surf: Im surfpopchilligen Fallout Today ähnliche Assoziationen: Das Akustikgitarren-Mainriff erinnert an Chris Cornells Seasons, die Gesangsmelodie ist endlich wieder schön und das Heavy-Distortion-Solo verfehlt seine Wirkung ebenfalls nicht.

The Dark ist trotz des dunklen Textes eine musikalische Feel-Good-Komposition, die besonders live richtig Spaß macht und dem gerade beschriebenen Stil ebenfalls folgt:

Ja, und beim countryfolkigen Long way kommen wir direkt zum nächsten Aspekt des Albums: Die vielen musikalischen Hommagen. Denn wem hier gehuldigt wird, war in den allerseltensten Fällen so eindeutig: Wenn Ed: He took the long way on the free way anstimmt, erscheint dem Hörer unmittelbar das freundlich lächelnde Gesicht des 2017 verstorbenen Tom Pettys. Auch Eds jüngste Tochter Harper ist zu hören.

Ein Album der Hommagen und Kooperationen
Eine weitere Hommage – die Beste des Albums – findet sich auf dem orchestralen Mrs. Mills. Eigentlich sogar derer zwei: Musikalisch lassen die Beatles grüßen. Um die Ehrerweisung rund zu machen, hat hier sogleich Ringo Starr die Sticks zur Hand genommen. Die zweite Huldigung ist textlicher Natur: Es geht – wie der Titel schon verrät – um die britische Musikerin Glady Mills und ihr Klavier. Piano spielt Eddie Vedder übrigens höchstselbst. Zeitloser Track! Richtig klasse:

Kommen wir nun zu den Kooperationen, welche sich im letzten Viertel des Albums breit machen. Und man möchte Eddie, Josh Klinghoffer und Andrew Watt hinsichtlich des Songwritings laut zurufen: Ja, warum denn nicht gleich so! Nummern wie Try sind mutig und frisch. Unverkrampfter Lumberjack Rock – und das nicht nur dank Stevie Wonders Weltklasse-Highspeed-Mundharmonika-Solo. Im Background: Eds Erstgeborene Olivia.

Und welch eine Macht das Songwriting eines Elton Johns darstellt, darf im Americana-angehauchten Picture bewundert werden – ebenso wie seine markante Stimme und das ausufernde Rock-n-Roll-Pianosolo. Der Gänsehautmoment des Albums!

auch hier: Die Nummer mal live genießen, unbezahlbar!

Hier hören wir Elton Johns Hommage an Pearl Jams Alive. Und erleben seine “Retourkusche“, nachdem Eddie sich auf der letzten Soloplatte des Tasten-Ritters „The Lockdown Sessions“ verewigt hatte (E-Ticket).

Einen emotionalen Schlusspunkt der subtilen Sorte setzt das Duett Eddies mit seinem viel zu früh verstorbenem leiblichen Vater. Wiedergefundene Tonaufnahmen von Edward Louis Severson Jr. schwirren durch den kurzen, sphärischen Song im Oceans-Eleven-Rat-Pack-Thema: I‘ll be on my way!

Fazit:
Das Album beginnt aussichtsreich, schleppt sich (kurz) uninspiriert dahin, ehe die Kurve volatil, aber verlässlich nordwärts klettert. Mit dem bereits erwähnten Into the Wild Soundtrack konnte Eddie 2007 eindrucksvoll beweisen, dass er nicht nur ein großer Frontmann, Sänger und Texter ist, sondern auch ein guter Komponist. Auf Earthling entzieht er sich dieser Fragestellung aufgrund der vielen Co-Writer. Ohnehin ist es etwas ganz anderes, dreizehn Songs für eine komplette Band zu schreiben.

Die Platte ist sehr schwer zu greifen. Einerseits fehlt ein roter Faden: Rock, Folk, Southern/Country/Americana, sind ziemlich viele Eindrücke aus dem Genre-Beet. Andererseits gefällt mir ja gerade – wie eben geschildert – der beherzte Ausbruch aus den Konventionen.

Und während ich diese Zeilen schreibe, bemerke, dass ich jeden einzelnen Song hier erwähnt und wahrscheinlich trotzdem Einiges vergessen habe und mir die Vorzüge der Platte durch den Kopf gehen lasse, kriege ich direkt Bock, den Black Circle nochmal zu spinnen (ich hatte mir mal die schicke Schallplatte gegönnt, s.o., Design: Eddie Vedder alias Jerome Turner). Ja, der Erdling ist vorerst auf meinem Plattenteller gestrandet. Das ist mal sicher. Zum Ende bin ich nochmal ketzerisch, wenn ich behaupte: Earthling ist das beste Pearl Jam Album [sic] seit dem selfttitled Album 2006.

Zur Bewertung:
Bewerte ich hier beide Seiten der Vinylversion einzeln, fällt Seite A (1-6) schon ab. Bewerte ich das Werk in Gänze als eine Hommage-Genremix-Feature-Familientreffen-Kompilation unter der Schirmherrschaft eines textlich extrem meinungsstarken Vedders, vergebe ich spaßmachende 8/10 Wellenbrechern. Kein Spiel entscheidet sich in der ersten Halbzeit. Mut wird belohnt!

Smile and Burn – Besser sein als jetzt (2022)

Von Felix

Ich muss zugeben, dass Smile and Burn viele Jahre recht spurlos an mir vorbeigegangen sind. Ich weiß aber gar nicht so genau warum, die Band trifft durchaus meinen Nerv. Ich bin tatsächlich (zu)erst durch das Stück Zubetoniert vom 2020er Album Morgen Anders so richtig auf die Band aufmerksam geworden. So freute ich mich dann auf das neue Album Besser sein als jetzt, was letztlich Mitte Mai 2022 nach zwei Vorab-Veröffentlichungen erschien. Übrigens auch in einer sehr hübschen 10“ Vinyl-Variante. Immerhin beugt das einem „die alten Sachen fand ich besser“ vor.

Die Platte startet mit Egal was gestern war: Das ist gleich ein energiegeladener Opener, der klar die Richtung dieser Platte vorgibt. Smile and Burn sind auf ihrem sechsten Studioalbum so, wie sie musikalisch eh am besten sind: aufgedreht, temporeich, manchmal wütend und fast durchgehend bei einer sehr angenehmen Härte, die auf schweißtreibende Konzerte hoffen lässt. Leider musste der Support-Auftritt für ZSK bedingt durch Corona gecancelt werden, also müssen wir bei Smile and Burn auf die nächste Live-Gelegenheit warten.

Aber zurück zu Titel 1, denn hier gibt es richtig guten modernen Punk. Dafür braucht es bekanntermaßen ja nicht viel, aber auch das muss eben gut sein, damit es auch richtig bumst. Schneller Schlagzeugtakt, schraddelige Gitarren, einfache Melodie, ein anklagender Text, aber alles so abgemischt, dass auch bei diesem Tempo durchaus harmonisch klingt und seine Wirkung nicht verfehlt. Zu viele Punk und Post-Punk-Bands verloren sich zuletzt in zunehmend ruhigen bis melancholischen Tönen und populären oder hart philosophischen Textkompositionen. Daher ist es schön direkt vom Start weg zu hören, dass Smile and Burn hier einen anderen Weg einschlagen.

Dem ersten Song folgt direkt das vorab veröffentlichte In vielen Farben. Schon bei dieser Veröffentlichung hatte ich gehofft, dass der Rest des Albums ähnlich laufen würde und ich wurde absolut nicht enttäuscht.

Die Platte geht durchweg diesen Weg, auch wenn mit Dieses Stück Hoffnung oder auch dem Song Scheißsystem zumindest mal phasenweise etwas ruhigere Töne angeschlagen werden.

Bei mir persönlich wecken diese Passagen in manchen Teilen in Bezug auf Gitarre und Gesang Assoziationen zu den Goldenen Zitronen. Das meine ich selbstverständlich als Kompliment und erklärt auch meine Freude an dieser Platte. Die Zitronen waren zwar musikalisch nie so hart, aber sie standen immer für kluge, ironische Texte, die auch gerne die eigene Szene und die eigene Rolle mit im Blick behielten.

Lieblingstracks auf dieser Platte sind ganz klar die aufeinander folgenden Titel Mensch, das Koks sieht klasse aus und Krätze. Erster ist eine Art Punkrock Coming-of-Age Stück. Kein Thema, das nicht auch schon von anderen Bands gesungen wurde, aber der ironisch-sarkastische Ton des Textes von Sänger Philipp Müller trifft voll meinen Geschmack – früher war ich Punk, jetzt Unternehmensberater – Eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden pure Freude.

Das noch zehn Sekunden kürzere Krätze steht hier in nichts nach, wenngleich der Text sich hier eher um lästige Proteste besorgter Bürger dreht. Musikalisch geht es hier zu sogar noch etwas kompromissloser zur Sache. Einfach herrlich.

Hier passt also sehr viel, um mich zufrieden zu stellen. Kommen wir jetzt also noch zu Schwächen: Ein paar Stücken im letzten Drittel der Platte fehlt ein wenig der Biss und sie sind für mich Bierhol-Songs, die ich eher nebenher laufen lasse. Meine besten Ideen und Wir haben Reden gehalten sind keine schlechten Lieder, fallen aber etwas ab, wobei die Texte auch hier hörenswert bleiben.

Den Abschluss bildet dann das textlich herausragend überflüssige Computer spielen. Ein Song, der ebenfalls bereits veröffentlicht wurde. Wer es nicht kennt, sollte sich die komplette Playlist dazu geben, der gleiche Song in sechs absolut hörenswerten Interpretationen verschiedener befreundeter Bands und Interpreten.

Was bleibt also abschließend festzuhalten: Ich höre dieses Album in weiten Teilen sehr gerne und freue mich über dieses geradlinige und authentische Album, dafür sahnen Smile and Burn hier 7 von 10 Wellenbrecher ab.

Porcupine Tree – Closure/Continuation (2022)

von Alex

Wenn ich in der Vergangenheit die britischen Progrock-Pioniere Porcupine Tree gehört habe, wurde ich binnen Minuten an die Welt der Whiskeys erinnert. Genauer gesagt an die geschmacklichen Unterschiede zwischen einem zarten Einstiegs Single Malt wie Glennfiddich oder Aberfeldy auf der einen Seite und den rauchigen bis torfigen Noten eines Laphroaig oder Ardbeg Uigeadail auf der anderen. Denn vergleicht man einen Aberfeldy mit Bands wie den Foo Fighters, Green Day oder gar Rammstein, die allesamt den Rockgeschmack von unzähligen Menschen punktgenau und spielend leicht treffen, sind Porcupine Tree eher ein Octomore von Bruichladdich – extrem andersartig und wahrlich nicht für jeden Gaumen bzw. für jedes Trommelfell geeignet. Und das meine ich für beide Seiten der Skala überhaupt nicht wertend: Leckere Spirituosen bzw. gute Musik ist alles. Weder das eine, noch das andere ist irgendwie „besser“. Porcupine Tree sind schlicht, wie der Amerikaner so schön sagt, a different kind of animal. Das muss dem Hörer / der Hörerin vorher klar sein.

Nun haben die Engländer knapp 13 Jahre nach dem letzten Album und zwölf Jahre nach ihrer Auflösung überraschend und in Prog-Kreisen viel umjubelt ein neues Album veröffentlicht. Dieses Mal bloß zu dritt: Komponist, Sänger und Gitarrist Steven Wilson, Drummer Gavin Harrison und Keyboarder Richard Barbieri. Bassist Colin Edwin ist nicht dabei. Auf Nachfrage offenbarte er: „Im März 2021 bekam ich eine E-Mail von Steve, in der er mir mitteilte, dass es ein neues Album gibt und da er bereits alle Bassparts eingespielt hatte, gibt es keine Rolle für mich.“ Lassen wir das mal so stehen.

Everybody: „Rock is dead!“ – Steven Wilson: „Hold my beer!”
Das Album beginnt mit der 8-Minuten-Nummer Harridan und diese lässt mich sprachlos zurück. Bereits als Vorab-Single und Appetizer im November 2021 veröffentlicht, ist es, als wären Porcupine Tree nie weg gewesen. So frisch kann Rockmusik heute klingen! Ein sensationell groovendes Bassriff im Up-Tempo ergießt sich ins Nichts, ehe Gavin Harrison sich und sein Instrument als kantigen, aber extrem präzisen Tanzpartner anbietet, akzentuiert durch Barbieris Keys. Die Platte ist erst Sekunden alt und das wilde Kopfnicken zwischen verzweifeltem Taktzählen beginnt. Es folgt Wilsons Stimme, erst im Flüstertüten-Style, später im unnachahmlichen Melodyfinding-Modus. Harridan entwickelt sich zur Audioversion eines atemraubenden Arthouse Krimis – mit Happy End; trotz schließendem Moll-Akkord:

Faszinierend wie nonchalant Wilson und Co. zwischen den musikalischen Welten wandeln – von Depeche Mode-Anleihen in Walk the Plank hin zu treibenden Soundgarden Refrains in Herd Culling -, ohne dabei auch nur ansatzweise die eigene Visitenkarte aus der Hand zu geben:

Und auch in dem neun Minuten Drama Chimeras Wreck – gewissermaßen drei Songs in einem – steckt ganz viel großraumige Detailverliebtheit. Hier wird sich Zeit genommen. Wie eine Blume, die ihre Blüte gen Sonne streckt und öffnet, so entwickelt sich der Song zusehends und der empirische Porcupine Tree Botaniker wird für seine Geduld mehr als belohnt. Nach vier Minuten zieht die Nummer spürbar an, bis schließlich ein schickes Wah Wah Gitarrensolo zum großen Finale wiggelt. Nach 48 Minuten Laufzeit ist dann alles vorbei.

Bonustracks
Alles vorbei? Nicht unbedingt. Denn es gibt – wie inzwischen üblich – nicht nur die Standard Edition des Albums, sondern auch die Deluxe Bonus Edition, die mit drei Songs – und knapp 18 Minuten – mehr aufwartet. Hier sticht vor allem das instrumentale Arrangement Population Three heraus. Das Trio ist hier – wie auf dem gesamten Album – auf natürlichste Weise extrem homogen und spielfreudig. Wilson und Harrison sind die Fliesen, Barbieri der Fugenmörtel.

Wunderbare Lyrics
Allgemein gilt zu konstatieren, dass die Texte – Wilson-typisch – wieder in der Lage sind, Bilder im Kopf zu erzeugen, Geschichten zu erzählen. Und auch heikle Themen anzupacken. Bei der aktuellen Singleauskopplung Rats Return dachte ich zunächst, sie selbst wären die zurückkehrenden Ratten, aber achten wir auf den Text, wird klar, es geht um Politik. Um die Rückkehr der Diktatoren: Namen wie Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko, Kim Jong-un, Xi Jinping (oder ihre afrikanischen Pendants) finden alle zwar nicht statt. Dafür aber – wohl als Platzhalter – ein paar „alte Bekannte“: Dschingis Khan, Augusto Pinochet, Mao Tse-tung, Kim Il-sung, die stellvertretend für die neue, unerwähnte Jahrgangsklasse herhalten müssen:

Leave your principles at the door
Spare me
Purge your guilt for the nameless hoards
Thrill me, you clown

Dazu: Heute lebt weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Art Demokratie – und sogar nur 6,4% in einer „vollständigen“ Demokratie (Deutschland zählt nicht dazu!), Tendenz fallend. Über ein Drittel der Erdenbürger lebt inzwischen in einer Diktatur/einem autoritären Regime (Quelle: Economist Intelligence Unit). Deutschland belegt im Demokratieindex “nur“ Platz 15 – zwischen Luxemburg und Südkorea. Ein kleiner Exkurs aus Interesse des Autors, verzeiht.

Zurück zu Arthouse Krimis: Rats Return erinnert musikalisch extrem an einen David Lynch Film: Verstörend, unheimlich, faszinierend. Und das Video unterstreicht diesen Effekt – doppelt:

Was gefällt mir nicht?
Abzüge in der B-Note gibt es von mir, da ich mir die Rückkehr der Progger insgesamt rockiger gewünscht hätte. Die sphärischen und ruhigen Parts bilden zwar einen passenden und vertraut klingenden Spannungsbogen und Kontrast zu den Rockparts, aber sie verschleppen stellenweise das Grundtempo. Selbst wenn ich grundsätzlich ein großer Freund von Wilsons Ansatz der „natürlichen Tempoanpassung“ bin (siehe hier). Auch die vermeintliche Ausbootung von Bassist Colin Edwin, erschließt sich mir (als Außenstehender) nicht. Ab September ist das Trio auf Tour (auch drei Deutschlandtermine stehen auf dem Programm) und da selbst Mastermind Wilson kaum Gitarre und Bass gleichzeitig spielen kann, steht dann eben nicht der altbekannte Edwin, sondern Nate Navarro (nein, nicht Dave Navarro) auf der Bühne. Wer weiß, was dahinter steckt.

Kaufempfehlung?
Am Ende meiner Rezension möchte ich nochmals den Bogen zum Einstieg spannen: Denn dieses Album kann ich uneingeschränkt jedem musikalischen Octomore-Sympathisanten ans Herz legen. Neben Musik, Text und Stimme ist auch die Produktion tadellos und ein Ohrenschmaus, jeder Kuppelschlag ist kristallklar und perfekt gesetzt (Harrisons Leistung ist ohnehin absolutes Toplevel!): 8/10 Wellenbrecher. Komm, schenk mir ein!

Musikalische Aberfeldy-Fans sollten aber die Finger davon lassen.