Riverside – ID.Entity (2023)

von Alex

Songs des Albums:

Friend or Foe?
Landmine Blast
Big Tech Brother
Post-Truth
The Place where I Belong
I’m Done with you
Self-aware

In den letzten Tipps aus’m Pit – April 2023 (Episode #51) – habe ich euch verraten, auf welche drei Neuerscheinungen ich mich in 2023 besonders freue (hört hier gerne nochmal rein). Zwei davon sind inzwischen erschienen: Running for a Dream von The Last Internationale (hier das Now Playing) und eben das achte Album der Prog-Rocker Riverside.

In der Podcastepisode habe ich die Musik lapidar als „Frickel-Rock à la Rush mit einem Schuss Hammond-Orgel-Elementen“ beschrieben. Nun muss ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass diese Beschreibung in 2023 nur zur Hälfte zutrifft. Die Keys sind auf dem neuen Werk der Polen nämlich deutlich in den Hintergrund gerückt bzw. ihre elektronischen Cousins bestimmen das Geschehen. Gleich der Opener Friend or Foe? lässt da aufhorchen: Ein unaufgeregtes, ausladendes Intro, welches auch in die 80er-Jahre-Synthiwelle hinein gepasst hätte und eminent an Bronski Beat’s Smalltown Boy erinnert (ab ca. 2 Minuten), mutiert zu einer prog-poppigen 7 1/2 Minuten-Erzählung – and you’ve been customised for my desires:

Brutal gut, wie hier zwichen Progrock, Pop und Synthielementen gekonnt und ungezwungen vom Buffet genommen wird. Dabei funktioniert das Album in erster Linie als Gesamtkunstwerk, einzelne Songs herauszupicken ist gar nicht nötig, vielleicht sogar unangemessen. Sagen wir, jeder Song ist wie eine Blume – ein bescheidener, aber wichtiger Teil des wunderschönen Blumenstraußes (sieben Songs, Gesamtlänge über 70 Minuten, Vinyl mit Bonus).

Aus musikjournalistischem Antrieb heraus schreibe ich aber doch, dass neben Friend or Foe? auch die anderen Singles I’m done with you (wütend rockig, unheimlich atmosphärisch und atmosphärisch unheimlich, klingt wie eine Abrechnung mit Putin) und Self-Aware (wunderbar rush-ähnliche Melodiegestaltung und Songstruktur) auf ihre Weise in Gänze zünden und dass gerade Big Tech Brother keine Wünsche offen lässt und als der Synonym-Song für das Album gelten kann:

Fazit:
Objektiv betrachtet verdient dieses Album absolute Bestnoten. Die Musiker komponieren und spielen auf unglaublichem Niveau, die Musik rockt und wenn sie nicht rockt, verzaubert sie. Die Songs sind wie Theaterstücke, die Worte gekonnt gewählt und die Stimme von Mariusz Duda unverwechselbar in Höhe und Volumen.
Subjektiv betrachtet ist mir das Album für die allerhöchsten Bestnoten jedoch zu… perfekt. Ja, klingt unfair, ich weiß. Zu gut?! Ernsthaft? Was ist los mit mir? Die Produktion und vor allem das Mastering erscheint mir technisch so perfekt, die Musik so tight, dass die Planken links und rechts keine unerwarteten Ausbrüche dulden. Und das heißt nicht: Spielt doch mal absichtlich ein bisschen falsch… aber Musik ist eben immer noch – trotz aller KI und technischer Hilfsmittel – eine Ausdrucksform von und für Menschen und die sind nicht perfekt. Diese eine Idee der Überraschung, der Unberechenbarkeit, ja, des Cholerischen fehlt mir. ID-Entity ist musikalisch großartig, aber das Herz für „Unperfektion“, welches ich im positiven Sinne auf Vorgängeralbum durchaus schlagen hörte, vermisse ich. Aber nochmal: Das ist Jammern auf ganz, ganz hohem Niveau. Ich höre hier ein Top-Album! 8/10 Wellenbrechern

POLEDANCE – Circus (2022)

Von Felix

Es geht doch immer so los: Man unterhält sich mit befreundeten Musikmenschen über Bands, die man kürzlich gesehen oder gehört hat und wenn man dabei über eine Band berichtet, die der andere noch nicht kennt, dann kommt auch schnell die klassische Frage: „und was machen die so für Musik?“ so logisch diese Frage ist – und ich habe sie selbst sicher schon unzählige Male gestellt – so blöd ist sie zu beantworten. „Hör dir die einfach mal an.“, sagt man dann in der Regel und schiebt heutzutage gerne noch ein „Ich schick dir mal ’n Link“ hinterher. Als ich neulich mit jemandem über POLEDANCE sprach, sagte ich dazu, dass diese Band eine Art Indie-Rock spielt. Auf ihrer Homepage stellen sie ihren Sound als Alternative-Emo-Rock vor und das trifft es natürlich noch besser. Die Band bzw. der Künstler weiß schließlich selbst in der Regel am besten, was für ein Stil gespielt wird, so werden als sounds-like Referenzen auf der Homepage auch Paramore, Fall Out Boy und Jimmy Eat World genannt. Spotify ordnet sie allerdings weitaus punkiger ein, aber das kann auch einfach an dem sich mir anbiederndem Algorithmus liegen.

Kommen wir endlich zur Sache: Das Album Circus ist mit zehn Songs angenehm reduziert, zeigt sich auch durchaus variantenreich, dies allerdings in der Hauptsache im Spannungsfeld zwischen Pop und Rock eines Songs. Es dürfte auch kein Geheimnis sein, dass mir persönlich dann in der Regel die zum Rock neigenden Songs besser gefallen, als die etwas pop-lastigeren Songs.

Es werden immer wieder elektronische Teile mit eingebracht und diese auch immer gut integriert, da sie sich nicht aufdrängen, sondern stets gut im Gesamtkonstrukt aufgehen.

Das Album erschien im Dezember 2022 bei Thirty Something Records – es wurden vorab bereits einige Singles des Albums veröffentlicht. Beautiful, Echoes und Help. Letztgenannter Song ist auch mit einem coolen offiziellen Video bei Youtube zu finden (siehe unten), wenngleich es sich anbietet immer Bandname und Songtitel bei der YouTube-Suche einzugeben, denn ansonsten kann man sich durch viele Poledance-Videos scrollen, die aus sporttänzerischer Perspektive sicher auch interessant sind, aber in der Regel nichts mit gutem Emo-Rock zu tun haben.

Um aber mal in die Einzelkritik zu gehen: Help ist auch gleich einer meiner echten Favoriten auf der Platte und ich finde die sichtbaren Klickzahlen bei YouTube und Spotify lächerlich klein, da sich dieser Song kein Stück hinter weitaus bekannteren ähnlichen Liedern verstecken muss. Melodie, Dramaturgie und Emotion sind in diesem Song wirklich stark abgestimmt und abgemischt, für mich ein Lied, das in diesem Genre absolut internationales Format hat. Unbedingt anhören!

Eigentlich kann man das auch für die gesamte Platte formulieren, nicht nur weil die Texte in englischer Sprache verfasst wurden, sondern insgesamt ist der Klang ambitioniert.

Neben den Singles fällt mir das vor allem noch bei Devil’s Pact und dem abschließenden 10. Lied der Platte – Sake of Life auf. Hier klingen für mich Ansprüche durch, nicht nur in Deutschland gehört zu werden. Warum auch? Nur weil man aktuell in Berlin ansässig ist und natürlich vor allem hier Konzerte spielen kann, muss man sich ja nicht auf den deutschen Markt beschränken. Devil’s Pact punktet bei mir mit zwei entscheidenden Teilen. Zum einen mit dem melodiösen aber temporeichen Pre-Chorus und Chorus und zum anderen mit dieser wunderbaren Bridge mit dem beeindruckend erdendem Gitarren-Lick nach dem zweiten Refrain als Übergang zur zweiten Songhälfte. Leider gefällt mir der poppige Sound der Strophen in dem Song nicht wirklich.

Bei No Love, dem 4. Track des Albums ist es genau umgekehrt, da mag ich die Strophen sehr gerne, dafür trübt dort der Pre-Chorus das Hörvergnügen – zu langsam, fast schon ausbremsend. Diese beiden Songs stehen exemplarisch für meine Wertung, denn irgendwie finde ich zwei Drittel meistens ganz geil und das letzte Drittel immer nur mittelmäßig oder zumindest nur bedingt überzeugend. So komme ich zu dem Fazit, dass ich persönlich dem Album Circus von POLEDANCE irgendwie schon gute, aber auch noch nicht so ganz reinhauende 6,5 von 10 Wellenbrechern verteile.

Ich möchte jedoch anhängen, dass es vor allem an meinen Hörgewohnheiten liegt und Lieder dieser Art – also (alternativer) Emo-Rock nicht zu meinen meistgehörten Songs gehören. Ich denke, dass die Band POLEDANCE für Fans dieses Genres hier ein Album mit sehr viel Potential geliefert hat und genau aus diesem Grund möchte ich die Band tatsächlich wärmstens weiterempfehlen. Aktuell ist vor wenigen Tagen noch die Akustik Live-EP Not Quite erschienen.

The Last Internationale – Running For A Dream (2023)

von Alex

Songs des Albums:

When They Come (They Bring Guns)
1984
Ghettoway Driver
Running For A Dream
Hoka Hey!
You Gotta Fight For Love
Unchain My Heart
Know Better
Hero
Edith Groove

In unseren “Tipps aus’m Pit“ (Episode #51, höre hier) hatte ich erwähnt, dass ich mich tierisch auf das neue Album des Rockduos aus New York freue und dass ich andererseits etwas traurig bin, sie nicht auf ihrer Europa Tour erleben zu können. Wie ihr unlängst vielleicht am Foto in unserem Instagram Feed erkannt habt, konnte ich wider Erwarten doch hin – und zwar nach Hamburg ins Headcrash – und was soll ich sagen? Es war eine fantastische Show! Aber nun los:

Musikalischer Metamorph – das dritte Werk eine bunte Hommage an Vorbilder
Los geht das neue Album mit dem dichtatmosphärischen Intro When They Come (They Bring Guns), indem Paz an Grace Slick von Jefferson Airplane erinnert. Ein perfektes Entree, um anschließend mit der rockigsten Nummer der Scheibe – 1984 – die Hörer*innen schm(h)erzlich Willkommen zu heißen. Dank der Riff-Originalität kommen sofort Gedanken an Tom Morello‘s Rage Against The Machine hoch. Dazu wütende, fett produzierte Post-Blues-Anleihen. Und auch der Text hätte aus der Feder Zack de la Rochas entstammen können.

No Peace when you’re looking for shelter […]
More lies, hollow
More graves, shallow
When hate echoes, cattle follow

Ja, es ist frei nach George Orwell eben „motherfuckin‘ 1984“ und wir drehen frei – ein weiteres Beispiel für Alex‘ Liederatur Solo Reihe. Die packende Gesellschaftskritik, als Vorabsingle bereits 2022 erschienen, war als Honorable Mention in der engeren Auswahl zum “Song des Jahres“ im Wellenbrecherbereich. Und einmal mehr denkt der geneigte Kapitalismuskritiker an die Wurzel des Bandnamens: Die französische Sozialismus-Hymne des 19. Jahrhunderts „The Internationale“.


Und selbst wenn ich jetzt nicht jeden Song chronologisch runterbeten möchte, muss ich an dieser Stelle direkt mit dem dritten Song weitermachen. Hier gibt es nämlich den ersten stilbrechenden Stolperstein. Hoppala! Was ist das? Nach dem anklagenden Abriss einer Dystopie, schallen uns beim Ghettoway Driver (wunderbares Wortspiel) plötzlich 80s-Synthis entgegen und wir wachen auf in einer melodischen Kate Bush Hommage. Eine auf gute Weise radiotaugliche Nummer, die erst verwundert, aber mit jedem Hören ein Stückchen mehr ihrer Eleganz entfaltet und zeigt, wie Pop frei von Gewissensbissen klingen kann. An Radiotauglichkeit mangelt es dem neuen Werk der letzten Internationalen ohnehin nicht. Auch das titelgebende Running For A Dream und You Gotta Fight For Love sind opulente, herzzerreißende Balladen im Stile der Grande Dames des Genres – Janis Joplin lässt grüßen! Leckerbissen mit großartigen Melodien, die Delila Paz‘ Bandbreite erneut untermauern. Auch musikalisch, denn sie singt nicht nur, sondern spielt Nina-Simone-like in beiden Songs Klavier.

die Stimmung, die bei TLI erzeugt wird, ist live fast greifbar: Pure Energie, Wut, Enttäuschung:
Paz und Pires legen live wirklich alles, inkl. ihrer Seelen, in jeden Song und lassen sich davontragen!

Kommen wir abschließend zurück zu dem Metamorph-Gedanken: Denn wie die New Yorker hier gestaltwandelnd zwischen Grace Slick, Janis Joplin, Nina Simone und Kate Bush, zwischen Synthipoprock und Rage Against The Machine Vibes herumspringen, ist schon schwindelerregend. Dem nicht genug, kommt mit Unchain My Heart noch eine lupenreine 3/4-Takt-Blues-Komposition zur Vita hinzu (mitgeschrieben hat hier die „Sync Deal Queen“ Jenny Owen Youngs). Und der klare Hidden Champion Edith Groove klingt wie ein Abschlussmix aus alledem: Ein frischfrecher Breakdown-Chorus, eine groovende Bassbridge gepaart mit bezauberndem Gitarrensolo und tanzbare Portugal. The Man Samples lassen das Album mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht ausklingen. Da muss selbst Paz lachen:

Independent Days
Was das Album neben musikalischer Variabilität und starken Texten noch bemerkswert macht, ist die Tatsache Delila Paz und Gitarrist Edgey Pires sich ganz bewusst, also keineswegs mangels Alternativen, dazu entschieden haben, unabhängig/“independent“, zu bleiben, was in diesem Fall „labellos“ bedeutet. Für ihre künstlerischen Freiheiten, für ihre Autarkie. Nachdem ihr Debütalbum We Will Reign in 2014 noch über Epic Records, eine Sony Tochter, lief und produziert wurde von Branchenriese Brendan O`Brien (Pearl Jam, RATM, RHCP, AC/DC, Korn, Springsteen u.v.m.), ist am aktuellen Album – wie übrigens auch am Zweitling Soul on Fire (2019) – wirklich alles selbst gemacht: Die Musik sowieso, aber auch die Produktion und sogar das auffällige Album-Cover ist von der großartigen Paz mit eigenen Händen gezeichnet worden. Und während die Band in ganz Europa tourt, wurden die vorbestellten Schallplatten und CDs zwischen den Shows “mal eben“ eigenhändig von Band und Roadteam eingetütet, beschriftet, zur nächsten Post transportiert und verschickt. Als ich das vorbestellte Werk dann in den Händen hielt, war ich ziemlich perplex, dass sich Paz sogar noch die Zeit genommen hatte, die Schallplatte zu signieren.

„I wouldn’t mind cuz to regret is to compromise“

Nach dem Konzert hatte ich die Chance kurz mit den beiden zu sprechen und ihnen ist natürlich bewusst, dass der Bekanntheitsgrad leidet, wenn man komplett unabhängig bleiben will. Sie selbst und ihre kapitalismus- und regimekritischen Texte macht es umso authentischer. Ein spannendes Thema auch mal für eine Podcastepisode: Schadet Berühmtheit oder Authentizität? Oder mehr catchy: Credit rating kills Credibility! Edgey Pires meinte an jenem Abend jedenfalls mit einem Augenzwinkern zu mir: „Aber Du kennst uns, das ist doch auch was wert!“

Und Paz bat ganz selbstironisch während der Show, als für die Zugabe Menschen aus der Crowd zu Hit ‘em With Your Blues auf die Bühne eingeladen wurden: „Vielleicht können wir es so machen, dass zumindest eine Person unten bleibt, damit nicht der ganze Laden auf der Bühne steht.“ Das Ganze sah dann so aus:

Die Live-Energie und Freude dieser Band sind nicht in (bewegte) Bilder zu pressen –
versucht habe ich es trotzdem!


Ja, wäre diese Welt eine gerechte, so wäre TLI ganz sicher „on top of it“ und würde, bei allem Respekt vor kleinen Locations, in denen üblicherweise die geilsten Abrisse stattfinden, bereits viel größere Bühnen bespielen.

Fazit:
Für mich gibt es an diesem Album (fast) nichts zu mäkeln. Und auch die bereits thematisierte Genre-Springerei, die man negativ betrachtet als fehlenden roten Faden interpretieren könnte, empfinde ich als bereichernd. Dank der extremen Wandelbarkeit begeben wir uns auf eine musikgeschichtliche Entdeckungsreise, bei der hinter jeder Ecke etwas Neues warten kann. Allerdings hätten nach meinem Geschmack ein paar mehr rockigere Nummern (neben 1984 eigentlich nur Hoka Hey!) der Albumdynamik und -dramaturgie gut getan. Aber wer bin ich, dem Paz-Pires-Paar zu erklären, wie sie in 2023 zu klingen haben?

Bewertung: 8,5/10 Wellenbrechern

R.E.M. – Murmur (1983)

von Alex

Die Musikwelt horcht auf: Michael Stipe, Sänger der legendären US-amerikanischen Alternative-Band R.E.M., hat für 2023 – nach langer musikalischer Abstinenz* – sein erstes Solo-Album angekündigt, unterdessen R.E.M.’s Debütwerk Murmur in diesem Monat 40 Jahre alt wird bzw. wurde (Release: 12.4.1983). Herzlichen Glückwunsch! Damit ist Murmur das bis dato älteste rezensierte Album im Wellenbrecherbereich.

Jubiläum und Neuerscheinung – zwei Gründe für mich, nochmal genauer hinzuhören, wie eine der prägendsten Bands der 90er ihre Weltkarriere begann. Und als kleiner Teaser sei an dieser Stelle verraten, dass R.E.M. in den kommenden Wochen nochmal Thema in unserem Podcast sein wird (seid also gespannt und bleibt unbedingt am Ball!).

Inspiration
Auf den ersten Blick mag man es vielleicht kaum glauben, aber der Einfluss, den R.E.M. auf spätere, wichtige Bands genommen hat, ist kaum hoch genug zu bewerten. Da wären z.B. Radiohead, The Pixies, Pearl Jam (Eddie Vedder: „I believe I listened to it [Murmur] tvelve-hundred-sixty times“) oder Nirvana, um nur einige wenige zu nennen. Kurt Cobain gab sogar zu: ”If I could write just a couple of songs as good as what they’ve written… I don’t know how that band does what they do. God, they’re the greatest.” (mehr zur Beziehung Stipe/Cobain dann im Podcast).

Rückblick
Beamen wir uns zurück ins Jahr 1983, kann besichtigt werden, dass der Trend klar zum Heavy Metal und Hard Rock ging. Metallica und Dio debütierten (mit “Kill Em All“ respektive “Holy Driver“) und Bands wie Mötley Crüe, Def Leppard, Accept, Iron Maiden oder Black Sabbath waren mit ihren Neuerscheinungen im selben Jahr ebenfalls in aller Munde. Als Gegenentwurf dazu betraten wie aus dem Nichts vier schüchterne „Jungs“ aus Athens (Georgia) die Weltbühne und spielten ihre unterschwellig rockbare, latent zur Melancholie neigende Musik. Sänger Michael Stipe war so zurückhaltend, dass er bei ihrem ersten landesweit ausgestrahlten Auftritt bei David Letterman nach der Performance kein einziges Wort mit dem Moderator wechselte, sich stattdessen in den Hintergrund setzte. Die Fragen des Latenight-Talkers beantworteten die Saiten-Instrumentalisten Peter Buck (Gitarre und damals arbeitend im Schallplattenladen) und Mike Mills (meistens Bass), siehe und höre hier:

der zweite Song im Video „South Central Rain“ sollte später auf dem Zweitling von R.E.M. – Reckoning – erscheinen

Zum Album:
Fangen wir für die Rezension mit dem hier präsentierten Song an, RE.M.s erste Single überhaupt aus dem Jahr 1981 (!) und Opener des Albums: Radio Free Europe ist klar der Hit des Erstlings und ein eindeutiger Fingerzeig, wohin die Reise mit R.E.M. noch gehen könnte.
Textlich ist Sinlge wie Album oft kryptisch oder schlicht kaum zu verstehen. Murmur (Gemurmel) halt. Einer der Gründe, weshalb auch eingangs zitierter Vedder das Album in Ermangelung eines Booklets mit Songtexten so oft hörte: Er wollte unbedingt verstehen, was der Sänger da von sich gibt.

Bei Talk About The Passion oder auch Perfect Circle musste ich an The Smiths denken, obwohl diese beinahe zeitgleich in England ihre Karriere begannen, sodass eine bewusste gegenseitige Inspiration eher unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen ist (das Debüt von R.E.M. war ein knappes Jahr früher dran).

Und was macht das Album besonders?
Kurze Antwort: Die Eigenarten der Musiker. Peter Buck hat die herausragende Fähigkeit, sich und seine Gitarre zurückuznehmen, um Platz zu schaffen für die tragenden (Gesangs)melodien des Songs, sodass Stimme und Gitarrenpattern beinahe miteinander zu tanzen scheinen oder – wie in dem starken Sitting Still – wechselruf-artig miteinander zu spielen. Buck ist eine oft unterschätzte Triebfeder in der Maschine und wichtige Waffe in R.E.M.s hoher Kunst der Melodienfindung.

Was sich auf Murmur bereits ankündigt, wird im Laufe der gesamten R.E.M. Karriere zur Gewissheit und zu einer Art Signature Sound. Denn Buck spielt (Ausnahmen inbegriffen) keine Soli. In der R.E.M. Biographie von David Buckley erklärt er es ganz pragmatisch:

“I know that when guitarists rip into this hot solo, people go nuts, but I don’t write songs that suit that and I am not interested in that. I can do it if I have to, but I don’t like it.”
Peter Buck

Diese zurückhaltende Untermaltung, gespickt mit liebevollen Details, macht sein Spiel essentiell und einzigartig, sodass die Besonderheit der Band und ihre Upside im Allgemeinen – früh ersichtlich werden. Der Song Catapult beispielsweise könnte als der Urgroßvater von R.E.M.s Übersong Losing My Religion durchgehen, nicht nur, aber auch wegen der mandolin-esken Gitarre.

Und Mike Mills, der sich neben dem meist melodiös statt rhythmisch interpretierten Bass auch für die Tasteninstrumente verantwortlich zeichnet, schließt dank eindrucksvoller „Gegenmelodien“ die fehlenden Zwischentöne und Ghost Notes. Seine Stimme im Background harmoniert dabei perfekt mit der von Stipe und sorgt für wohlige Wärme. Stipes Stimme ist auf dem Debüt zwar noch roh, aber die ersten Knospen sind klar zu erkennen, ehe die Charakteristik seines unverkennbaren Timbres ab dem Album Document (1987) gänzlich zur Blüte gereift.

kurzer Exkurs:
Musik ist ja immer auch persönliche Erinnerung und Assoziation. Ich habe nicht die geringste Ahnung wieso, aber bei R.E.M. Songs aus den 80ern und 90ern – und das sind ja bekanntlich eine Menge -, muss ich immer an alte Tom Hanks Filme aus der gleichen Zeit denken. Kann mir jemand erklären, wie das kommt? Ich weiß es wirklich nicht! Einen R.E.M. Song zu einem Tom Hanks Film habe ich nicht gefunden, wenngleich die Band gefühlt in jedem anderen Film zu der Zeit zu hören ist. Die einzige mir bekannte Parallele: Michael Stipe hat 1994 die Rubrik Best Male Performance bei den MTV Movie Awards präsentiert, die Tom Hanks dann mit dem Film Philadelphia gewann.

Fazit:
Murmur ist ein bockstarkes Debüt, das in „harten“ Metal-Zeiten die Musikwelt verzaubern konnte. Neben dem perfekten Katalysator für eine erfolgreiche Weltkarriere (der treibende Ohrwurm Radio Free Europe), hören wir viele melancholische (Zwischen)töne, deren Schwermut und Sehnsucht stets auf subtile Weise mitschwingen und der autodidaktischen Band (außer Mills) großes Songwriting attestieren. Im letzten Viertel fällt das hohe Niveau ein wenig ab, aber der Grundstein war eindrucksvoll gelegt. 7,5/10 Wellenbrechern

Mehr zu Stipe, Buck und Co. wie eingangs erwähnt bald bei uns im Podcast – einhergehend mit der dringenden Empfehlung, sich auch mal die tollen Schattensongs dieser großen Band zu Gemüte zu führen!

Hier eine kurze Auswahl, weder in alphabetischer, noch in chronologischer Reihenfolge und erst recht nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit:

Country Feedback
Try not to breathe
Half a world away
Find the river
So. Central Rain (höre auch oben, zweiter Song im ersten Video)
Driver 8
Sweetness follows
Monty got a raw deal
I’ll take the rain
E-Bow the letter
Daysleeper
Why not smile
Walk unafraid
Leaving New York

* ein paar wenige Songs gab es in den vergangenen Jahren von ihm zu hören. Einiges davon wird vermutlich auf dem Album zu finden sein.

Fjørt – Nichts (2022)

von Felix und Alex

„Das Album spricht eine ziemlich hoffnungslose Sprache“
Chris im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Im November 2022 veröffentlichten Fjørt ihr viertes Album nichts. Derzeit spielen sie ihre Tour mit dem Titel Nichts hat mehr Bestand. In Bezug auf das Album lässt sich zunächst ganz nüchtern feststellen, dass das so nicht stimmt. Schon vor dem ersten Hören wird klar, einiges hat sehr wohl weiterhin Bestand. Die Songtitel beispielsweise bestehen weiterhin aus nur einem Wort. Und auch beim Hören wird schnell klar, dass sich die Band auch musikalisch treu bleibt – zum Glück. Fjørt liefern ihren eigenen Stil im Post Hardcore. Der Sound der Gitarre mal sphärisch, mal brachial, bildet unterstützt vom passenden Bass und Schlagzeug, das mit markanten und extrem kreativen Gimme-More-Beats aufwartet, den Rahmen für den Gesang.

„Wir nutzen da ein paar technische Spielereien… […] kriege ich die Rythmusgitarre aus dem Bass raus?! Das Signal wird audiotechnisch gesplittet, eins auf Gitarren-Amp, eins auf Bass-Amp
David im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Dieser Sound bleibt auch auf Nichts in vielen Teilen ein markantes Schreien, zeigt sich insgesamt aber facettenreicher als auf den Vorgänger-Platten.

„Das Schreien ist so da drin – das ist wie Fahrradfahren. Aber das Singen […], da hab ich mich bisher nicht so 100% getraut. Wir wollen uns aber immer weiter challengen. Wir haben einen hohen Anspruch, Dinge auszuprobieren und wollen lange Spaß daran haben.“
Chris im Interview mit dem Wellenbrecherbereich

Ich finde, dass es ein wesentliches Merkmal von nichts ist und dieses Album noch etwas abhebt. Als Beispiel: fernost enthält einen gesungenen Chorus, feivel in den Strophen ruhigere Gesangsteile und das in unserem Interview inhaltlich recht ausführlich besprochene kolt bietet in den Strophen eher einen Rap / Sprechgesang.

Im Song lakk (eine Konsumkritik) wurde – neben den Einspielern aus dem ersten deutschen Werbespot in den 50er Jahren – Kindergesang integriert (höre Interview) und bei lod ist sogar ein ganzer Knabenchor zu hören (höre ebenfalls Interview).

„Vierdrittel langt für mich.
Den Rest darfst du verteilen“

Das alles wird jedoch bemerkenswert dezent in die Songs integriert, so dass es dem Fjørt-typischen Hörvergnügen keinen Abbruch beschert. Ganz im Gegenteil, gerade diese Mischung aus klassischem Post-Hardcore – der mal, wie bei den Liedern schrot oder salz kompromisslos in die Fresse haut, dann wieder ruhige bis düstere Passagen hat, wie z.B. in dem instrumentalen wasser, oder bei tau – und den beschriebenen neuen Elementen – macht dieses Werk noch viel eindrücklicher und erhöht den Reiz des Nochmal-Hören-Wollens.

Ein weiterer Anreiz sind die Texte: Egal ob glasklar und schmerzhaft entlarvend ins Gesicht, wie in schrot – einer überzeugenden Kritik zu Fleischproduktion und -konsum:
Komm mal lang hier man, halt drauf, das lebt noch / wir sind die Creme de la Scheißdrauf!

Oder eher lyrisch oder kryptisch formuliert – nichts ist wie ein gutes Buch, in dem man bestimmte Passagen nochmal und nochmal liest, weil man sie so gelungen formuliert findet. Oder anders: Das Album ist wie ein Poetry Slam auf ganz hohem Niveau.

So vergibt der Wellenbrecherbereich trotz oder gerade wegen der „ziemlich hoffnungslosen Sprache“ für nichts, einem rundum gelungenen, abwechslungsreichen und atmosphärsch dichtem Album, das die Band eindeutig nochmal weiter nach vorne gebracht hat, bockstarke 9/10 Wellenbrecher.