Genuary Tipp 26/31 2022

Blind Summit mit Alexandra Angelini aus Manchester, England

Frisch aus dem Ofen, wie man so sagt: Die nach Subservient inzwischen zweite EP von Blind Summit – Hell and Heresy – erschien Ende 2021. Was mir an den Briten so gefällt, ist ihr Yin-Yang-Ansatz. Während die (inzwischen nur noch) drei Musiker (Drums, 7-saitige Gitarre, 6-saitiger Bass) in technischer Klarheit und mit Doublebass-Stakkato-Floor den ultratiefen Rock in die Ohren schießen, singt Angelini melodiös schön, beinahe poppig, drüber weg wie ein … nein, das Wortspiel ist selbst mir zu blöd. Jedenfalls wie eine Art Metal-Aguilera:

Die meisten jungen, aufstrebenden Hardcore und Metal Bands gehen beim Gesang anders an die Sache heran. Bei Blind Summit jedenfalls erinnert das Experminet stimmlich an Evanescence, wenngleich die Musik auf Strecke doch deutlich düsterer und härter ist:

Sängerin Angelini schreibt auch die Texte. Die Vorab-Single zur EP – Like Water – behandelt den Zwiespalt eines Menschen zwischen Zufriedenheit und dem Streben nach Mehr. In einem Interview erklärte sie unlängst: „Damit will ich nicht auf jemanden herabsehen, der zufrieden und glücklich ist. […] Stattdessen ist es eine offene Frage für jeden, der sich genauso fühlt: Sollen wir akzeptieren, was uns gegeben wurde oder sollen wir nach mehr streben?“ – Und schon wieder Yin und Yang. Hört mal rein!

Instagram:
Blind Summit
Alexandra Angelini

Genuary Tipp 25/31 2022

Hannah Reid von London Grammar

Was soll ich euch noch erzählen, was ihr nicht selbst wisst?!

Ich gehe davon aus, dass fast jeder, der das hier liest schon mal ein Song der englischen Indie-Pop Band London Grammar gehört hat, bzw. ein Video der Band gesehen hat. Nicht nur weil offizielle Videos, wie das zu ihrem Song Strong von 2013 bereits über 50 Millionen mal angesehen wurden, sondern auch weil von Ihnen unzählige wirklich großartige Live- und Live-Studio-Mitschnitte existieren. In dieses Live-Versionen kommt die überragende Stimme Hannah Reids meist noch besser zur Geltung als in den Studioversionen. Aber egal ob Studio oder Live-Aufnahme letztlich bleibt festzustellen, dass ihre Kollegen Dominic Major und Dan Rothman mit ihrer Frontfrau zusammen fast immer einen geradezu perfekten musikalischen Rahmen schaffen, in dem sich der beeindruckende Stimmumfang Reids hervorragend entfalten kann.

Die Musik ist dabei häufig angenehm zurückhaltend, dennoch präsent. Letztlich eben einfach verdammt gutes Teamwork beim Schreiben der Songs. Das setzte sich auch auf dem neuen Album Californian Soil (2021) fort. Ein Beispiel dafür ist für mich der letzte Song der Platte – America. Grillen zirpen zum Intro, die Gitarre klingt durch die Effekte ganz weit weg und der Gesang und damit auch der wirklich gute Text stehen mitten im Raum.

Bei London Grammar wird man live sicher keine bleibenden Erinnerungen an den Moshpit mit nach Hause nehmen, aber diese Live-Erinnerungen wenn plötzlich während der Songs alle still und gebannt auf die Bühne starren und vergessen, an ihrem Bier zu nippen, sind nicht weniger bleibend und beeindruckend. Aber wie gesagt, vermutlich habt ihr es eh alle schon mal gesehen. Aber guckt es euch doch einfach nochmal an…

P.S.: Bei diesem Video geht bei etwa 33 Minuten der Song Nightcall los (Gänsehaut). Sollte zufällig jemand davon die Vinyl-Single besitzen und möchte diese loswerden, meldet euch…!

https://www.instagram.com/londongrammar/

Genuary Tipp 24/31 2022

Jillian Dowding AKA JJ Wilde aus Kanada

Frisch, unverbraucht, Sinn für Melodien. JJ Wildes Musik würde ich als rockigen Schiefpop bezeichnen (zum Thema „ausgedachte Genres“ siehe auch Felix‘ Tipp 13/31). Mit Schiefpop meine ich, dass die Songs durchaus Pop-Merkmale aufweisen, aber das Songwriting dank raffinierten, sperrigen, ja, „unpopulären“ musikalischen Finessen den Stempel „klassisch-kitschiger Pop“ locker umgehen kann. Für Rock ist es aber auf Streckie nicht hart genug. Schiefpop eben. Soundbeispiel:

Doch am Ende des Tages ist es natürlich ganz egal, wie man das Kind nennt. Hängen bleibt bei mir, dass ich gerne zuhöre. Und nicht nur ich. Ihr Debütalbum Ruthless aus 2020 ist im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichnet. Es war ein weiter Weg zum „best Rock Album of the year“ (Rock? Die Juno Awards für kanadische Musiker*Innen haben wohl noch nie etwas von Schiefpop gehört). Vor gar nicht langer Zeit hatte die heute 29-Jährige noch drei Jobs gleichzeitig und schrieb in den Pausen ununterbrochen Songs, die zum Teil auf der 2019 erschienenen EP Wilde eyes, steady hands zu hören sind, ebenso wie auch auf Ruthless. Wired ist einer davon:

Apropos Songs schreiben: Dass JJ Wilde auf den zweiten Blick mit Frederik Thaee eigentlich ein heimliches Duo ist – der Däne schreibt mit Dowding die Songs und ist auf Ruthless auch als Backgroundsänger, Gitarrist und Bassist zu hören – sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Für die Beurteilung der Musik macht das aber erstmal keinen Unterschied. Auf Ruthless sind alle Songs von Thaee und Dowding als Team geschrieben (zwei Songs zudem mit Victoria Hansen und einer mit Tom Peyton).

Im letzten Jahr schob JJ Wilde dann gleich wieder was nach – und zwar die wunderbar flowende EP Wilde. Sie selbst beschreibt die sechs Tracks als „Wohlfühl- und Spaßsongs“. Ja, das passt schon. Trotzdem, ich nenne es weiterhin voller Respekt Schiefpop. Und auch die Coverversion von Tom Pettys Stop draggin‘ my hear around im Duett mit Brett Emmons von den Glorious Sons ist sehr gelungen.

Instragram: JJ Wilde
Ihre Musik gibt es hier.

Genuary Tipp 23/31 2022

Ioanna Gika

Musik kann man hören. Das ist toll. Aber ich denke, ich bin nicht der einzige, mit dem die richtige Musik im richtigen Moment noch viel mehr anrichtet als die reine Beschallung. So wie man sich ein Buch nehmen, oder einen Film schauen kann, so setze ich mich (vor allem am Wochenende) gerne hin und höre ein oder mehrere Alben. Über das Label Sargent House bin ich bei so einer Aktion auf die Amerikanerin und Griechin Ioanna Gika gestoßen. Einigen dürfte sie bereits als Sängerin von IO Echo bekannt sein, ich habe sie für mich gerade erst entdeckt und das über ihr 2019 erschienenes Solo-Album Thalassa. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich die Musik für jemanden beschreiben soll, der sie noch nicht kennt. Gibt es sowas wie Epic-Indie-Pop?! Keine Ahnung, greift aber eh zu kurz, da auch stellenweise mit Samples und elektronischen Linien und Drums gearbeitet wird, die an manchen Stellen auch Erinnerungen an Portishead hervorrufen können. Darüber hinaus gibt es Parts mit klassischen Instrumenten oder sehr tiefen Bässen. In jedem Fall gibt in meinen Augen jedes musikalische Arrangement einen unglaublich guten Rahmen für den beeindruckenden Gesang Ioanna Gikas. Ich gebe zu, es kann sein, dass ich vor einigen Jahren vermutlich einfach geskippt hätte, weil mir ihr Gesang zu hoch ist. Aktuell hat mich die Platte aber schlicht ins Staunen gebracht, was für Gedankenwelten durch Lieder entstehen können. Ähnlich ging es wohl auch Javier Yañez, der das folgende Video gedreht hat, welches kein offizielles Musikvideo ist, sondern ein Kurzfilm „inspired by“ No Matter What

Es bleibt mir nicht nur eine dringende Empfehlung diese Platte zu hören, sondern auch der Hinweis dieses auch ganz altmodisch im Sinne der Dramaturgie von Song 1 bis 10 zu tun. Wie geil sind bitte die Übergänge von Song 3 zu 4 und von Song 9 zu 10?! Ich kann mich auch nur sehr schlecht entscheiden, welches Lied ich hier noch verknüpfe, habe mich dann aber für den ersten Track Roseate entschieden, weil in diesem schon alles drin ist, was ich oben bereits beschrieben habe und sich diese Nummer musikalisch in gut vier Minuten unglaublich entfaltet und wandelt

Abschließend sei noch erwähnt, dass die Künstlerin kürzlich noch einen Popularitätsschub erfuhr, da sich das Modelabel Dior für ihren sehr klassischen und dadurch herausragenden, auf griechisch geschriebenen und gesungenen Song Thalassa als Kampagnen-Titel entschied und offensichtlich ebenfalls durch ihre Musik stark inspiriert wurde. Sie haben daraus nicht nur einen Spot, sondern einen dreiminütigen Werbefilm gedreht, der das antike Griechenland episch aufleben lässt, der auch bei YouTube zu sehen ist, ich hier aber keine Werbung verlinken möchte.

Noch mitten im Januar kann ich euch für Abwechslung bei fiesem Wetter nur vorschlagen, dieses Album aufzulegen, mit einem Becher Tee aufs Sofa zu setzen und 35 Minuten einfach nur ganz in euren Gedanken zu bleiben.

Klar das ist keine Musik für meine Deichbrand-Playlist, aber ich bin durchaus beeindruckt.

Genuary Tipp 22/31 2022

Fatoumata Diawara (Elfenbeinküste / Mali)

Wer unser Dreckiges Dutzend Best of Multisingual gehört oder unseren Genuary Tipp 30/31 2021 gelesen hat, weiß, dass ich eine Schwäche für Afrikanische Musik habe. Damals sprach ich über den fantastischen Oliver Mtukudzi und schrieb über Sampa the Great. Heute möchte ich euch Fatoumata Diawara vorstellen. Zunächst lassen wir sie für sich selbst sprechen bzw. singen:

Doch nicht nur durch ihre Musik passt Diawara perfekt in unseren Genuary. Als überzeugte Feministin kämpft sie für die Rechte von Frauen und Mädchen in (West)afrika. An dieser Stelle sehr zu empfehlen ist der Podcast Hear my Voice über Musikerinnen und ihre Geschichten, auch Fatoumata Diawara wird porträtiert. Marlene Küster leistet hier tolle und wichtige Arbeit, bitte anhören.

Was mich neben der Musik und dem Aktivismus begeistert sind die Texte, die ich, zugegeben, natürlich nicht verstehe, weil hauptsächlich auf Bambara – und das ist bei mir etwas eingerostet… Doch es lebe das Internet! Hier könnt ihr exemplarisch den Text zum Song Boloko nachlesen und seine Wichtigkeit erkennen:

They cut the flower that made me a woman
Don’t cut the flower that makes me a woman
If you circumcise girls You will make their intimate moments difficult
They will always have health problems
I beg you mother, don’t make them circumcise me, it hurts so much!
I beg you father,don’t make them circumcise me, it hurts so much! 
They cut it…Mother, stop female circumcision! If you circumcise girls You will make their intimate moments difficult. They will always have problems with childbirth

They will always have health problems
It hurts so much! It hurts so much! It hurts so much! Don’t circumcise girls!
It hurts so much! It hurts so much! 

African women live through too much hell. African women live through too much suffering. It hurts so much! We should look again at our ancestral beliefs and assess them.

It hurts so much! Keep what is good for us, and reject all that harms us.
It hurts so much! African women live through too much hell.
African women live through too much suffering.
It hurts so much!It hurts so much!It hurts so much! Mother…

Todernste und sehr wichtige Themen verpackt in leichte Afrikanische Klänge – eine für uns Europäer ungewohnte, aber nicht minder beachtenswerte Mischung. Diawara – eine tolle Musikerin, ein bemerkenswerter Mensch.

Instagram: Fatoumata Diawara