Mark Lanegan – Straight Songs of Sorrow (2020)

Eigentlich wollte ich im letzten Jahr ein Now Playing geschrieben haben. Und zwar zum 25-jährigen Jubiläum des kommerziell erfolgreichsten Albums einer der ersten amerikanischen Grunge-Bands. Die Screaming Trees um Sänger Mark Lanegan veröffentlichten mit Dust im Jahr 1996 ihr bereits siebtes und – im Nachhinein betrachtet vorletztes – Album. Doch es kam immer was dazwischen, es verblieb beim Wunsch.

Dann wollte ich stattdessen unbedingt ein Now Playing schreiben zum neuesten Solowerk Lanegans, der übrigens mit seinem vibrierenden Bariton nicht nur für die Trees sang, sondern Anfang der 2000er auch für die Queens of the stone age. Auch das habe ich immer wieder verschoben.

Nun, nach Lanegans Tod am 22. Februar, gibt es keine Ausreden mehr. Also kramte ich meine handgeschriebenen Notizen zur Platte hervor, um meine Gedanken aufzufrischen und endlich mit euch zu teilen.  Doch bevor es losgeht, ein paar grundsätzliche Worte zum Künstler.

Der Poet unter dem Radar
Im Jahre 1990 – nach dem vierten Album der Screaming Trees  – brachte Lanegan sein erstes Solo-Album auf den Markt: The Winding Sheet. Elf weitere Alben sollten folgen. Und wann immer Lanegan den Stift zur Hand nahm, um zu schreiben, kamen befreundete Musiker herbeigeeilt, um ein Teil der Kreativität zu werden. Auf dem Debüt beispielsweise sind Kurt Cobain und Krist Novoselic zu hören (Letzterer nur per Bass in Where did you sleep last night). Aber auch Namen wie Nick Cave, Jack Irons, Josh Homme, Mike Johnson und Duff McKagan trugen sich im Laufe der Zeit als Komponisten und/oder Studiomusiker in seine Diskographie mit ein. Und auch auf dem neuen Album wurde eifrig kooperiert.

Düstere Autobiographie
Beginnen wir aber mit Lanegans Steckenpferd, den Texten. So war er – wie auch seine Kollegen aus dem Seattle der 90er Jahre – kein Freund lebensbejahender, frohlockender Lyrik. Es gab ja keinen Grund. In seiner Biographie mit dem bezeichnenden Titel Sing Backwards and Weep, die ganz kurz vor dem heute besprochenen Album erschien, berichtet Lanegan auch von seiner Kindheit. Seine Mutter habe ihn misshandelt, sein Vater war ein extremer Trinker. Mit zwölf sei er selbst schon Alkoholiker gewesen, zudem spielsüchtig und ein Dieb. Zu seinen Vorstrafen als 18-Jähriger zählten Einbruch, Ladendiebstahl, Drogenbesitz, Vandalismus, Versicherungsbetrug und 26 Fälle von Alkoholkonsum bei Minderjährigen. Die Alkoholsucht versuchte er mit Heroinkonsum zu egalisieren bzw. regulieren. Lanegan zynisch: „Heroin kept me from dying from the horrors of my severe alcoholism.“ Ein schweres Leben wortwörtlich von Geburt an.

Zudem machte sich Lanegan bis zuletzt große Vorwürfe, weil er an einem verhängnisvollen Tag im April 1994 den Anruf eines sehr guten Freundes bewusst nicht entgegennahm. Der Freund war Kurt Cobain. Der Tag im April war der 5.

Dank der Hilfe einiger befreundeter MusikerInnen wie dem schon erwähnten Duff McKagan und Coutney Love, bekam Lanegan irgendwie die Kurve. Zuletzt war er clean – über ein Jahrzehnt lang. Und während er sich in seinem Buch den Frust von der Seele schrieb, passiert das gleiche auf Straight Songs of Sorrow.

Die Texte auf dem Album
Schon im Opener I wouldn‘t want to say klingt sein Kampf gegen die Alkoholsucht in Passagen wie: Everything I ever had is on ice. All those who tried to help me scattered like mice an. Überhaupt hat der Poet unter dem Radar gleich zu Beginn sehr viel zu sagen: Er arbeitet sich wortreich durch seine Vergangenheit – gebetsmühlenartig unterbrochen von einem schmerzlichem I wouldn‘t want to say

Der Albumtitel ist, wie zu erwarten, mehr als Programm und so sind die Texte randvoll von Leid, Trauer, Ablehnung und empfundener Minderwertigkeit. Selbst in Songs, die vermeintlich harmlos daherkommen, wenn im Refrain von Internal hourglass discussion gesungen wird: All on this beautiful day, scheint es hinter dem Offensichtlichen um das Verglühen eines Grunge-Dinosauriers zu gehen.

A burst of blackbirds in the sky
All of a sudden this beautiful day
Far past the zenith of my high
Has given me the will to change
But I’m so tired, I’m wide awake

A pedestrian’s dying cry
Piercing the air on this beautiful day
Hit by a taxi driving by
And taking my resolve to school
Staring at the street where the blood has pooled

All on this beautiful day

Und die Musik?
Malen die dunklen Texte ein bizarres, francis-bacon-eskes Fratzen-Gemälde mit gedeckten Farben, so passt der akustische Bilderrahmen aus Elektro Dark Folk, akzentuiert durch Piano und Streicher, perfekt. Mit treibenden Gitarrenriffs hat das allerdings rein gar nichts zu tun. Und wer den Künstler über die letzten Jahre verfolgt und in Alben wie Gargoyle (2017) oder Somebody‘s knocking (2019) reingehört hat, wird das sicherlich auch nicht erwartet haben. Fast würde ich so weit gehen zu behaupten, wir hören hier ein von Lanegan eingesprochenes/eingesungenes Hörbuch mit puristischer, atmosphärischer Untermalung, aber das würde den Arrangements nicht gerecht werden.

Denn diese sind wieder von befreundeten Musikern – wie eingangs erwähnt – mit komponiert worden. Apples from a tree beispielsweise, eine tränenreiche Akustikballade, dessen Herzschmerzkonzentration an den späten Johnny Cash erinnert, schrieb Lanegan gemeinsam mit Lamb of God Gitarrist Mark Morton. Kaum begonnen, schon wieder vorbei. 1:54 Minuten. Good night, my love, good night!

Ein Highlight des Albums stellt weiter das Duett mit seiner Frau Shelley Brien da. Im Cave-Minogue- oder vielleicht noch passender: im Richie-Ross-Gewand keimt in This game of love erstmals so etwas wie versöhnliche Vergebung auf und man möchte den Texter einfach freundschaftlich in den Arm nehmen.

Auch hat mir die Nummer Bleed all over sehr gut gefallen, deren beinahe euphorische Melodie immerhin musikalisch zum Durcharmen einlädt – yeah! -, bevor der Hörer metaphorisch nach einem kurzen Spaziergang im sonnendurchfluteten Park wieder durch den nächsten dunklen, nach Urin stinkenden Tunnel kriecht.

Fazit:
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erschien mir Straight Songs of Sorrow wie die letzte Sitzung einer erfolgreich beendeten Selbsttherapie. Nach Lanegans Tod wirkt es auf mich plötzlich anders. Und zwar wie das dunkle Vermächtnis eines oft missverstandenen, unterschätzten und gebrochenen Mannes, der seine schmerzlichen Erfahrungen teilt, bis es wehtut: Sing backwards and weep eben. Eindrucksvoll geglückt in der ersten Hälfe, mit einigen Lückenfüllern bestückt in der zweiten. 6,5/10 Wellenbrechern