Genuary Tipp: 9/31: Pure Reason Revolution (Chloe Alper)

In unserer letzter Veröffentlichung des vergangenen Jahres – dem Dreckigen Dutzend Best of 2022 – hatte ich mir u.a. eine Nummer von dieser Band herausgepickt. Dead Butterfly zählt in seiner natürlich fließenden Struktur und seinem Facettenreichtum zum Besten, was ich in 2022 gehört habe.

Die Band hinter diesem Song kann sich glücklich schätzen, mit Chloe Alper nicht nur eine tolle Sängerin, sondern auch Musikerin in ihren Reihen zu haben (hauptsächlich Keyboard und Bass). 2003 an der Londoner Westminster University gegründet, kristallisierte sich schnell eine aufregende Mischung aus avantgardistisch sphärischem Rock und down to Earth Elektro heraus. Nach vier Alben und einer kurzzeitigen Schaffenspause, kam die dreiköpfige Band 2020 in mit ihrer knapp 48-minütigen Sechs-Track-LP (!) Eupnea fulminant zurück. Und 2022 dann eben Above Cirrus mit Dead Butterfly und anderen progressiven Songs. Der Bandname übrigens passt ideal zu meinem Blogartikel Literatur in der Musik (Link), denn Pure Reason Revolution steht für Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft.

Genuary Tipp 9/31 2022

Chelsea Wolfe

Meine besondere Aufmerksamkeit erhalten Bands und Musiker*Innen immer dann, wenn sie mich überzeugen, obwohl sie sich in einem Genre bewegen, dem ich normalerweise nicht besonders viel abgewinnen kann.

Chelsea Wolfe bedient mit dem Singer / Songwriter und Gothic oder Goth-Rock Genre gleich zwei dieser Felder. Aber da wir uns beim Wellenbrecherbereich ja sehr vielen Musikstilen zuneigen, habe ich auch gelegentlich dafür ein Ohr und das wurde – wenn auch über Umwege – bei den Liedern Chelsea Wolfes voll belohnt. Der Umweg bestand in diesem Fall aus dem gemeinsamen Projekt Wolfes mit Jess Gowrie die als Mrs. Piss teilweise unkonventionell zwischen Punk und Grunge performen.

Über diesen für mich konventionellen Weg näherte ich mich dann ihren Solo-Projekten. Ja, natürlich muss man sich für den eigenwilligen Sound ihrer Platten in einer bestimmten Stimmung befinden, aber letztlich – finde ich – trifft das auf jeden erdenklichen Musikstil zu.

Was mich an den Songs z.B. der Alben Hiss Spun (2017) und Abyss (2015) überzeugt, ist eine gewisse Eigenwilligkeit. Dass Chelsea Wolfe zum Teil im Gothic angesiedelt wird, habe ich da zunächst weniger herausgehört. Das lässt sich vielleicht auch eher an dem Vorgänger Pain is Beauty (2013) festmachen und zum Teil natürlich auch an den Texten und Videos. Ansonsten finde ich die Stücke so überzeugend, weil sie klingen, als kämen sie recht ungefiltert direkt aus der Seele der Künstlerin. Das gelingt natürlich nur, wenn ein gutes Stück Eigenanteil in der Produktion gesichert ist, bzw. wenn man auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zählen kann, so wie Chelsea Wolfe es mit ihrem Partner Ben Chisholm seit jetzt über zehn Jahren kann. Müsste ich erklären, wie die Songs klingen, dann fiel mir nichts Besseres zu sagen ein als, sie klingt wie Goldfrapp, die auf einem Horrotrip auf Sonic Youth trifft und sich an früher erinnert. (Ich meine das sehr positiv)

Das zuletzt (2019) erschiene Album Birth of Violence knüpft wieder eher an den Songwriter Stil an, der z. B. auch auf dem Unknown Rooms Album (2012) zu hören ist. Aber auch hier bleibt der Eindruck, dass sich Chelsea Wolfe in ihrer Kunst wenig von Konventionen leiten lässt, sondern viel aus ihrem eigenen Antrieb entsteht. Ich muss aber zugeben, dass ich mir lieber die etwas düstereren, knarzigen Songs anhöre mit diesen Gesang, der phasenweise sehr dünn und fragil ist, dann aber wieder mit vollem Klang das Kommando übernimmt. Also wir sprechen hier keinesfalls von Barhocker-Akustikgittaren-Mentalität.

Dass sie in ihrem Schaffen viel experimentiert, lässt sich auch an der neuesten Kollaborationen mit den Haudegen von Converge festmachen. Das aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangene Album Blood Moon I wird uns in jedem Fall dieses Jahr auch noch in unserem Podcast beschäftigen – so viel sein schon mal verraten.

https://www.instagram.com/cchelseawwolfe/

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#womeninmusic #chelseawolfe

Genuary Tipp 8/31 2022

The Warning aus Monterrey, Mexiko

Nur ein Wort: Bemerkenswert!

Das junge, unglaublich quirlige Schwestern-Trio hat bereits zwei komplette Alben in seiner Diskographie (per Crowdfunding finanziert und selbst produziert). Bei den Aufnahmen zum Debüt XXI Century Blood (2017) war die jüngste Schwester Alejandra (Bass) gerade einmal elf Jahre alt. Ernsthaft? Ja!

Nun erschien vor wenigen Wochen mit Animosity eine neue rockstarke Nummer (das Video von Webtoon passt erschreckend großartig zum Song). Dem nicht genug: Im Herbst letzten Jahres wurde bereits die EP Mayday rausgehauen. Auch das Teil rockt, als seien die Drei schon ganz alte Hasen.

Mit einer klassischen Klavierausbildung im Rücken ging es für die Villarreal Velez Schwestern über beachtenswert komponierten Poprock hin zur Straight ahead Rockmusik. Aber hört selbst, (live) action speaks louder than words:

Lieblingsstelle? Na klar, ab 2:25 Minuten.

Neben den fünf englischsprachigen Songs gibt es auf der EP auch diese spanische Perle. Überzeugender Gesang, ohrwurmbefeuernde Melodie, butterweiches Songwriting:

An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass The Warning spätestens ihr zweites Album Queen of the murder scene (2018) nicht selbst hätten produzieren müssen. Interessierte Plattenlabel gab es. Doch die Band wollte sich ihre Unabhängigkeit erhalten. Independent Rock im wahrsten Sinne des Wortes. Mit Lava Records haben Daniela (Gitarre und Gesang), Paulina (Drums) und Alejandra im Jahr 2020 offenbar ein Label gefunden, welches ihnen diese gewährt.

Abschließend drücke ich die Daumen, dass die Drei für ein paar Gigs schleunigst nach Europa, bevorzugt Deutschland, kommen. Am 15. März jedenfalls eröffnen sie erstmal für die Foo Fighters in Mexico City. Da werden viele, viele Menschen auf die jungen Mexikanerinnen aufmerksam werden. Wenn The Warning keine rosige Zukunft blüht, stünde es um die Vielfalt in der Musik wohl noch schlimmer als befürchtet. Mark my words!

Instagram: The Warning

Genuary Tipp 7/31 2022

GIRLI aka Milly Toomey

Eigentlich ist Popmusik keine echte Stilrichtung, allerdings führt genau dieser in der Musikindustrie recht weit verbreitete Irrglaube – man könne sich seinen Popstar so zurecht basteln, wie es einem passt – immer wieder dazu, dass talentierte Künstler*Innen fallen gelassen werden, sich zurückziehen und sicher auch nicht wenige von ihnen irgendwann einfach entnervt aufgeben. Ich erfreue mich dann immer mal wieder an Personen die diesem Prozess trotzen und die sich und ihre Musik auch in einen künstlerischen Kontext setzen und versuchen, ihre Persönlichkeit über Musik, dazugehörige Videos, soziale Medien usw. zu inszenieren. Es gibt zu wenige gute Kunstfiguren, die die Öffentlichkeit als Plattform nutzen, um eine Meinung oder Haltung zu transportieren und zu viele zurechtgeformte Knetfiguren. Deshalb ist das, was wir Popmusik nennen meistens einfach schlecht und völlig austauschbar und belanglos.

GIRLI ist ein ganz wunderbares Beispiel, dass es auch anders geht. Die englische Künstlerin ist zunächst einfach an mir vorübergezogen, da mich ihre Musik auch nicht in den Bann ziehen konnte und ich diese recht schnell als zu poppig wegskippte. Tatsächlich hatte ihre damalige Plattenfirma offenkundig ähnliche Popstar-Bastel-Pläne wie oben beschrieben. Diese gingen jedoch nicht auf, GIRLI war nicht angepasst und dadurch auch nicht schnell genug erfolgreich und wurde kurzerhand fallen gelassen. Eine gute Reaktion darauf ist das Video zu ihrem Song Has Been, in dem genau diese Seite der Musikindustrie thematisiert wird von der insbesondere Künstlerinnen betroffen sind.

Die laufende Tour 2020 musste natürlich abgebrochen werden. So entstanden noch einige Folgen GIRLI IRL eine Art Video Blog mit Interviews. Ihre Position und ihre Einflüsse werden da insbesondere in der 3. Episode im Interview mit Nadya von Pussy Riot deutlich, aus dem die Forderung to be a badass in patriarchal world herausgestellt und fett unterstrichen werden kann, aber in dem auch weitere interessante Statements zu Punk, Queeres Leben in Russland uvm. Darum hier der Link zum Interview:

Die Trennung vom alten Label ist im Nachhinein betrachtet in meinen Augen ein Glücksfall für GIRLI und ihr neues Label Allpoints. Die beiden 2021 erschienen EPs Ex-Talk und Damsel in Distress sind zwar musikalisch auch durchaus noch poppig, überzeugen aber mit sehr klaren Statements und Songs zu Themen, die in populärer Musik zu selten vorkommen, oder in Watte gepackt werden. Außerdem mag ich an den Platten, dass sie musikalisch schwer einzuordnen sind. Viele Samples, manchmal Gitarren, manchmal Elektro, manchmal Rap ein bunter Mix.

Meine persönliche Empfehlung ist daher, GIRLI rückwärts zu hören, also mit den neuen EPs zu beginnen und sich dann zu den alten Sachen durchzuhören, auf denen sich durchaus auch einige (vor allem textlich) gute Songs finden. Wie z. B. Up and Down, der auf dem ersten Album Odd One Out (noch beim PMR-Label) herauskam.

https://www.instagram.com/girlimusic/

Genuary Tipp 6/31 2022

Code Orange aus Pittsburgh, USA mit Reba Meyers (Gitarre, Gesang)

Untätigkeit kann man der Hardcore Band aus Pennsylvania wahrlich nicht vorwerfen. Nachdem 2020 ihr viertes Studioalbum Underneath auf den Markt kam und flugs eine düstere unplugged Session hinterhergeschoben wurde (höre und siehe hier), traf man sich im letzten Jahr mit niemand geringerem als Billy Corgan von den Smashing Pumpkins, um gemeinsam an neuem Material zu arbeiten. Eine durchaus spannende Kooperation. Wer sich das frisch veröffentlichte Out for Blood zu Gemüte führt, dem/der wird Corgans Mitarbeit aber wohl nicht gleich ins Ohr springen. Oder doch?

Dass Code Orange aber auch ohne Corgan rocken können, haben die bisherigen Veröffentlichungen eindrücklich bewiesen. Besonders gut gefällt mir dabei, wenn Reba Meyers nicht „nur“ virtuos Gitarre spielt, sondern in ausgewählten Stücken auch Shouter Eric Balderose die Hauptarbeit am Mikrophon abnimmt und singt – wie hier im titelgebenden, elektro-metaligen Underneath:

Erste Sporen im Musikbusiness verdiente sich Meyers bereits in ihrer vorherigen Band Adventures, die deutlich in Richtung Indie und Melody Punk ging.
Eine kurze Reise in die Vergangenheit – youtube macht’s möglich:

Aber zurück ins Hier und Jetzt:
Denn so darf man sich in diesem Jahr auch live auf die umtriebige Band freuen. In meiner Videobotschaft auf Instagram zu unserem Genuary sagte ich, dass sich die großen Festivals durchaus diverser zeigen dürfen. Code Orange ist aber bereits seit Langem Teil des Rock am Ring Universums (2015, 2017 und eben 2022 – ja, wer einmal auf Mareks Liste steht…).

Instagram:
Code Orange
Reba Meyers