Telegraph Fidelity

von Alex

In der Welt der audiophilen Popkultur-Romane hat sich für mich ein Werk besonders hervorgetan, das bereits in unserem Podcast Erwähnung fand (höre hier) und nochmal einen „kleinen“ Bruder bekommen hat. Die Rede ist natürlich von High Fidelity von Nick Hornby aus 1995 und Telegraph Avenue von Michael Chabon aus 2012. Beide Romane erkunden auf ihre eigene Weise die Dynamik von Freundschaft und Musik im urbanen Leben. Doch inwieweit sind sie wirklich miteinander vergleichbar?

Telegraph Avenue
Michael Chabons Telegraph Avenue entführt uns in die pulsierende Atmosphäre von Oakland, Kalifornien, in der zwei Männer, Archy Stallings und Nat Jaffe, ihren eigenen Plattenladen, Brokeland Records, betreiben. Ihre Bindung wird nicht nur durch ihre Liebe zur Musik, sondern auch durch familiäre und geschäftliche Herausforderungen auf die Probe gestellt. Chabon webt geschickt eine Erzählung, die die Vielschichtigkeit des modernen Lebens in einer gentrifizierenden, diskriminierenden Stadt einfängt. Mit tiefsinnigem Humor und einer Flut von musikalischen Anspielungen (gleich mehr) zeigt er, wie Identität und Kultur miteinander verbunden sind.

High Fidelity
Nick Hornbys High Fidelity spielt im London der 90er Jahre und erzählt ebenfalls die Geschichte eines Plattenladenbesitzers (Championship Vinyl), Rob Fleming – im gleichnamigen und ebenso großartigen Film übrigens Rob Gordon, gespielt von John Cusack. Wichtig zu betonen: High Fidelity ist in Ich-Form gechreiben und treibt durch seine introspektiven Monologe die Handlung voran. Es dreht sich hauptsächlich um die Höhen und Tiefen von Flemings Liebesleben, während er Top-5-Listen von allem erstellt, was ihm in die Quere kommt. Gleich zu Beginn auf wunderbar neurotische Weise sogar die Top 5-Trennungen.

Hornby schreibt mit einem scharfen, ironischen Ton, der die männliche Psyche in der Midlife-Crisis bloßlegt. Sein London ist ein Mikrokosmos der Musik-Obsession und der Versuche, das Leben durch die Linse von Vinylplatten zu verstehen. Der Stellenwert von Musik wird hier doppelt unterstrichen (Spoiler: Bald werden wir auch im Podcast über das Thema Musikkonsum und -wichtigkeit sprechen!). In einer Szene stellt sich Fleming vor, er würde gar Beziehungstipps vom Boss persönlich, von Bruce Springsteen, erhalten:

Show a little faith, there’s magic in the night
You ain’t a beauty, but hey, you’re alright
Thunder Road

Hornbys Werk brilliert durch seine unmittelbare und oft humorvolle Herangehensweise an die Lebensrealitäten der männlichen Generation X.

Unterschiede
Wo also liegen die Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Werken? Beide Autoren erforschen die Männerfreundschaft in der Welt der Musik, jedoch mit ganz unterschiedlichem Fokus. Während Hornby sich auf die persönliche Reife und die Unfähigkeit, erwachsen zu werden, konzentriert, betont Chabon die sozialen und ethnischen Spannungen in einem sich wandelnden urbanen Umfeld.

Telegraph Avenue will dabei zu viel und weiß deshalb nicht immer, was es sein will. Klar, das Buch ist mit knapp 670 Seiten etwa doppelt so dick wie High Fidelity und bietet somit mehr Raum. In der Tiefe der Charakterentwicklung und der atmosphärischen Darstellung überragt Telegraph Avenue. Chabon kombiniert geschickt historische und soziale Themen mit eindrucksvoller Erzählweise, die sowohl einfühlsam, als auch unterhaltsam ist. Kritisieren könnte man indes, dass sich der Autor bei den vielen geöffneten Baustellen und Themengebieten verzettelt. So ist das Buch mal Gangsterklamotte in den zeitlichen Rückblenden zu Archie Stallings Vater, mal Gesellschaftsstudie in den Passagen mit Jaffes und Stallings Frauen, die gemeinsam als Hebammen arbeiten (ich war noch nie so nah bei einer Hausgeburt dabei, extrem stark geschrieben!) und mit Rassismus zu kämpfen haben (Archie Stallings Frau ist schwarz und im Übrigen selbst hochschwanger) und mal Coming of Age (Jaffes Sohn Julius ist dabei sich und seine sexuelle Orientierung zu finden). Dabei werden der Plattenladen und seine bedrohte Existenz, die immer wieder eingeworfene Musik und die absolut kultigen Tresengespräche im Laden (zu) weit in den Hintergrund gedrängt.

Apropos Musik
Bei der Musik gehe ich mit High Fidelity, aber nur knapp. In Chabons Werk lernen wir einen Plattenladen kennen, der sich auf anspruchsvollen Jazz spezialisiert hat, was zumindest meinen Horizont enorm erweitert hat. Wir lesen sowohl weltberühmte Namen wie Marvin Gaye, James Brown, Herbie Hancock oder John Coltrane, als auch – zumindest für den gemeinen Rockmusik-Fan wie mich – eher unbekanntere wie Sun Ra oder Ornette Coleman (Asche auf mein Haupt!).

Ich habe es geliebt, das Buch zu lesen, mir fleißig Notizen zu machen und mich anschließend durch die mir unbekannten Referenzen zu hören.

Bei Hornby hingegen werden Bands wie The Smith, Green Day, The Beatles oder The Clash thematisiert. Und was geht da schon drüber? Andererseits wird ein Kunde, der den Song „I just called to say I love you“ von Stevie Wonder sucht, von Flemings Mitarbeiter (im Film gespielt von Jack Black) hochkant aus dem Laden befördert.

Fazit
Insgesamt sind sowohl Telegraph Avenue als auch High Fidelity sehr lesenswerte Bücher der audiophilen Popkultur, die durch ihre tiefgründigen Charaktere und ihre lebendige Darstellung der Musikwelt fesseln.
Beide Werke nutzen Musik nicht nur als Hintergrund, sondern als essentiellen Bestandteil ihrer Erzählung. Sie ist das Band, das die Charaktere und ihre Geschichten zusammenhält. Doch High Fidelity schafft es deutlich besser, sie als Destillat zu konzentrieren.

Telegraph Avenue: 7/10
High Fidelity: 8,5/10

auch der Film ist sehr empfehlenswert

Daisy Jones & The Six von Taylor Jenkins Reid (2019)

von Alex

Ich muss sagen, ich bin begeistert. In jüngster Vergangenheit habe ich kein Buch so schnell durchgesuchtet.

Worum geht es?
Kurz zusammengefasst erleben wir den Aufstieg bis hin zur Auflösung einer fiktiven Rockband in den USA der wilden 70er Jahre. Trotz der Fiktion gibt es immer wieder auch Anspielungen auf echte Musiker und Musikerinnen der Zeit. Wir verfolgen die Band, die sich neben Hierarchiegerangel und Drogenproblemen auch herumschlägt mit vielerlei zwischenmenschlicher Themen, Liebesgeschichte(n) inklusive.

Konkret:
Billy Dunne und sein Bruder Graham haben in der Nähe von Pittsburgh gerade eine Band gegründet – The Six. Nach einigen beachtlichen Auftritten, ersten Erfolgen und einem anschließenden Plattenvertrag, empfiehlt das Management einen Umzug ins musikalisch prosperierende Kalifornien. Dort trifft die Band auf die wilde und sehr emanzipierte Sängerin Daisy Jones, die vom Label zu etwas gemacht werden soll, was sie nicht ist. Und schon gar nicht sein will. The Six nehmen mit Jones ein Album auf und Schlamassel wie gleichermaßen Aufstieg zu Weltruhm erfolgen nahezu parallel bis zum furiosen Finale.

Was ist so besonders?
Der süchtig machende Faktor ist klar der von der Autorin gewählte Erzählstil. Das komplette Buch besteht aus kurzen Interviewsequenzen der damals beteiligten Personen, sodass man als Leser kaum einen Abschluss findet und das Buch nur schwer weglegen kann: Ach, komm, noch eben lesen, wer er dazu sagt… Aha! Und was sagt sie jetzt dazu? Oh!

Eine absolute Leseempfehlung für alle, die Musik lieben, auf die wilden 70er in den USA stehen und die schnelles, innovatives, fast drehbuchartiges Storytelling schätzen.

Serie auf Amazon Prime
Heutzutage reicht oft das Buch nicht mehr als Medium aus. Geld will verdient, ein größeres Publikum erreicht werden. Bei Daisy Jones & the Six wurden schlussendlich wirklich alle Kanäle bespielt: Unlängst gab es eine Mini-Serie auf Amazon Prime (2023), die Jenkins Reid selbst auch produziert hat.

Und im Rahmen dieser Serie gab es natürlich auch einen Soundtrack, produziert von Blake Mills, was bei einem Buch bzw. einer Serie über eine fiktive Band ja auch naheliegt, die Bandits oder die Hansen Band lassen grüßen. Gleich mehr zum Soundtrack.  

Serienkritik
Nun heißt es oft, wenn es zu Verfilmungen von Literatur kommt: „Das Buch war besser!“ Und leider muss ich auch hier sagen, dass die Serie mich längst nicht so packt wie das Buch. Die Bilder sind, wie bei Streamingproduktionen heute üblich, viel zu geleckt und glatt gebügelt. Zudem weicht die Gechichte doch merklich von den raffinierten Details der Originalvorlage ab. Künstlerische Freiheit, okay, aber die Geschichte wirkt einfach weniger authentisch, man hetzt durch die Folgen, obwohl gerade Serien, ja, selbst Mini-Serien, das perfekte Medium für tiefgreifende Charakterstudien bieten. Ohne sie 1:1 thematisch vergleichen zu können, bot die von mir im Podcast bereits erwähnte HBO-Serie Vinyl da mehr (es geht um ein kriselndes Musiklabel in den 70ern in New York). Chance vertan. Trotz zehn Episoden.

Die Band selbst bleibt oberflächlich und wirkt zu lange wie eine mittelmäßige Schülerband. Okay, keine große Band startete ihre Karriere auf dem Zenit ihres Könnens, aber dass diese anfangs nur aus Jungs bestehende Truppe eine Weltkarriere hinlegt, mit einem Frontmann (gespielt von Sam Claflin), der laut Vorlage geboren ist für die Bühne und auf 100 Meilen als Star erkennbar war, erscheint weit hergeholt.

Auch die literarische Vorlage der Daisy Jones stellt die Schauspielerin Riley Keough vor so große Hürden, dass sie einem stellenweise leidtun kann. Wir lesen von einer fiktiven Janis Joplin oder Grace Slick, vollgepumpt mit Unangepasstheit und Respektlosigkeit, und bekommen auf dem Bildschirm stattdessen eine Bette Midler. Zugegeben: Die Autorin selbst sagt, sie habe sich lose an der Geschichte von Fleetwood Mac und Sängerin Stevie Nicks orientiert, aber es gibt auch klare Parallelen zu anderen, härteren Bands.

Es nötigt mir viel Respekt ab, dass beide Hauptdarsteller*innen selber singen (höre hierzu unsere Folge #53 hier). Sie tun das auch absolut respektabel, keine Frage. Aber gerade bei Daisy Jones reden wir laut Buchvorlage von einer der „beeindruckendsten Stimmen der Rockgeschichte“. Wie soll das glaubhaft umgesetzt werden mit der Stimme einer Schauspielerin, selbst wenn Riley Keough wirklich und wahrhaftig die Enkelin von Elvis Presley ist und sie dank des Mitwirkens am Film The Runaways bereits Erfahrungen mit ähnlichen Produktionen hatte? Diese Vorgabe ist schlicht unerreichbar.

Ein kleines Highlight der Serie ist übrigens die Nebenrolle der Keyboarderin Karen Sirko, die gespielt wird von Suki Waterhouse. In unseren Tipps aus’m Pit war sie bereits Thema (siehe hier).

Soundtrackkritik
Zurück zur Musik. Schon beim Lesen hört man diese förmlich im Kopf. Die Autorin hat ein Händchen dafür, den Schaffensprozess mit den Worten der Beteiligten großartig zu umschreiben. Gewünscht hätte ich mir deshalb Songs, die das Pure des 70s-Bluesrock mit der Tiefe einer ganz besonderen Stimme paaren. Zeppelins Battle of Evermore, Robert Plant im Duett mit Sandy Denny, hätte exemplarisch als Vorbild dienen können:

Stattdessen hören wir angepassten 21. Jahrhundert Bluespop – beteiligt waren Phoebe Bridgers und Marcus Mumford (Mumford & Sons) -, der klar das Ziel verfolgte, möglichst viele Klicks zu ergaunern (hat geklappt!) und schnelles Geld zu verdienen. Den Anspruch den kantigen Sound des Buches einzufangen sucht man vergeblich.

Zudem: Die Autorin hat sich in der Entstehung des Buches die Mühe gemacht, komplette Lyrics für die ausgedachten Songtitel zu schreiben. Sie sind auf den letzten Seiten abgedruckt. Beim Soundtrack hingegen sind zwar die Songtitel zumindest teilweise identisch, aber die Texte sind ganz andere. Klar, es ist nicht leicht, einen Song von 0 auf bereits bestehende Texte zu komponieren, aber natürlich absolut möglich. Wenn man denn will.

Bewertung:
Buch: 8,5/10 Wellenbrechern
Serie: 6/10 Wellenbrechern
Soundtrack: 4,5/10 Wellenbrechern

Erwähnte Wellenbrecherbereich Referenzen:

über Suki Waterhouse

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