Wrong Chat – Wasteland (2022)

Von Felix

Wrong Chat sind zwei Bremer, die mit Wasteland im Oktober 2022 ihren ersten Longplayer veröffentlicht haben und das weit überwiegend in Eigenregie. Das Album ist als Tape und als CD erhältlich (und natürlich digital), am einfachsten hier über Bandcamp.

Paul, Sänger und Gitarrist haben wir vom Wellenbrecherbereich Anfang 2023 noch live im Tower Bremen gesehen, als er als Support-Act für Shitney Beers auftrat. Das war schon ein etwas besonderer Auftritt, da ich beim ersten Stück noch dachte, er macht jetzt so ein wenig Soundcheck – aber nein, aufgrund der kurzfristigen Einladung war es Schlagzeuger Tom Wagner einfach nicht möglich teilzunehmen und so wurden die Studiodrums kurzerhand vom alten I-Pod von Pauls Schwester eingespielt. Es war trotzdem (oder auch deswegen) ein gelungener und unterhaltsamer Auftritt. Paul hat an dem Abend immer knapp aber ganz launig die ausgewählten Lieder vorgestellt. Mir hat es so gut gefallen, dass ich mir später direkt ein Tape gekauft habe. Es hat viel Spaß gemacht mal wieder einen wirklich guten Grunge-Sound zu hören. Das ist ja doch mittlerweile eine Rarität und deshalb denke ich auch, dass hier genau das Potential für Wrong Chat liegt: Sie sind nicht die xte schon ganz gute, aber auch nicht wirklich herausragende Punkband, sie schwimmen auch nicht auf der Welle der (ebenfalls oft guten aber eben) echt vielen deutschen Post-Hardcore Bands, sondern gehören zu den Bands, die zu einer Reanimation des Grunge beitragen könnten.

Den Gedanken mag ich sehr, wenngleich mir auf Wasteland auch nicht jeder Song gut gefällt. Ich kann für mich festmachen, dass ich alle etwas raueren Songs bzw. Parts sehr schätze, die etwas ruhigeren bis poppigen Teile gefallen mir nicht immer. In der Hauptsache liegt das daran, dass Paul für seinen Gesang immer den gleichen Effekt nutzt und ich finde das in bestimmten Passagen nicht immer passend, bzw. manchmal sogar etwas nervig, so dass ich unten in der Wertung dann natürlich auch ein paar Abzüge habe.

Um das aber auch mal konkret zu benennen: nicht so gelungen finde ich das z.B. in dem Song Playlist, obwohl der sonst (oder für andere Hörerinnen und Hörer) vom Konstrukt her wohl durchaus Ohrwurmpotential hat. Might Be und What I Feel finde ich dadurch insgesamt auch etwas anstrengender. Die Ausnahme dieser Regel bildet hierbei Two Brainer – gleiches Prinzip, also insgesamt etwas ruhiger, Stimmeneffekt der selbe, aber irgendwie packt mich dieser Track dann doch, weil er sich im und um den Chorus herum etwas interessanter entfaltet.

Sehr gelungen hingegen sind aus meiner Sicht der titelgebende Song Wasteland und Stick Togehter. Letzteres klingt in der Gitarre recht offensichtlich nach Nirvana, entwickelt aber schnell einen eigenen wirklich guten und animierenden Sound. Wasteland ist sehr abwechslungsreich und steigert sich zum Ende hin immer weiter in Tempo und Härte und hat daurch Potential für den besten Konzert-Track von Wrong Chat (siehe Video weiter oben).

Mein Lieblingsstück ist aber So Many Times. Der rundeste Track mit einem geil straighten Gitarren-Riff in den Strophen, mit klassischen Grunge-Passagen und im Chorus und in den Bridges verlangsamt und die Gitarre ohne Verzerrung also irgendwie ein Retro-Sound trotzdem mit ganz eigenem Charakter – liebe ich.

Ich habe im Laufe des Jahres 2023 mit The Bobby Lees, Margaritas Podridas und eben Wrong Chat drei Bands neu ins Herz geschlossen, die es schaffen Grunge und / oder Garage Punk zwar nicht neu zu erfinden, aber wieder mit neuem Leben zu füllen. Wenn Stilrichtungen über Jahre und Jahrzehnte nur von den Legenden und Haudegen leben, dann wird es irgendwann langweilig und läuft sich allmählich zu Tode. Deshalb freue ich mich sehr über diesen Sound, den Wrong Chat auf ihrem Album Wasteland anbieten und wünschte mir persönlich ein wenig mehr Härte oder Mut zum Unkonventionellen.

Um das ganze abschließend zu bewerten, gehe ich „nur“ auf sechs von zehn Wellenbrecher – mit Potential für viel mehr, aber ich merke schon, dass ich die Songs, die mir nicht gefallen auch tatsächlich weiterskippe und mich die Platte so mit den 10 Tracks zu ziemlich genau 60% zufriedenstellt (plus einen Extrapunkt für die Katze auf dem Cover von Wasteland – habt ihr sie entdeckt?).

Silverstein im Tower, Bremen, 11.06.2022

von Alex

die Jungs hatten Bock: Silverstein am Samstag im Tower

Als Felix und ich am Samstag gut gelaunt Richtung Tower schlenderten, hatten wir zwar richtig Bock. Doch befürchteten wir eine des Abends nicht angemessene überschaubare Zuschauerzahl vor der Bühne. Zum einen drehen in den aktuell unsicheren, inflationären Zeiten die meisten Menschen ihre Euro notgedrungen zweimal um und zum anderen brannte schon den ganzen Tag die Sonne vom Himmel. Eher Schlachte- oder Uniseewetter als Club-Wetter also. Und dann ist da ja auch noch dieses Virus…

Gegen 19:30 Uhr trafen wir ein und unsere Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Erstmal zur Theke und zwischen ein paar verlorenen Menschengrüppchen ein Schreckbier verzehrt. Im Laufe der Zeit wurde es aber doch merklich voller, sodass der Bereich vor der Bühne zum Start der Supportband Shoreline gut gefüllt war. Shoreline? Sagt euch was?! Ja, Felix hatte über die aktuelle Platte der Münsteraner mit Namen Growth ein detailliertes Now Playing verfasst (lese und höre hier).

Support
Als die vier Jungs losbretterten, fiel mir als erstes der bemerkenswert dichte und kristallklare Sound auf. Nur die Textzeilen waren – zumindest von unserer Position aus – kaum zu verstehen, was bei den wichtigen Botschaften der Songs etwas schade war. Trotzdem, großen Respekt an Band und Mischer für diesen durchdringenden, satten Livesound. Und apropos Livesound: Schlagzeuger Martin Reckfort konnte mich ziemlich schnell als Fan gewinnen, war er ein verlässlicher Taktgeber auf hohem Niveau, der komplett frei von Theatralik seinen Job erledigte. Ein bisschen wie ein Fußball-Torwart, der einfach den Ball hält, anstatt eine Flugshow abzuziehen und sich danach viermal abzurollen.

Sänger und Gitarrist Hansol Seung war mit Beginn des ersten Taktes sofort da, schrie und sang, hämmerte auf Saiten ein und sprang über die Bühne. Mimik und Gestik verrieten volle Authentizität, Energie und Wut. Sein Shirt mit der Aufschrift „No one is illegal“ und der Regenbogen-Gitarrengurt verrieten die Werte des Mannes mit koreanischen Wurzeln. In einer kurzen Atempause wurde es zwischen zwei Songs gesellschaftskritisch, als Hansol sich fragte, weshalb Hardcore Shows bloß so wenig divers seien, obwohl die Szene selbst doch tolerant und für jede*n offen sei. Im Publikum weiße Männer, wohin das Auge reichte. Passenderweise hatten wir genau diese Frage vor Kurzem auch in unserem Interview mit den Punkern von Mischwald diskutiert (höre u.a. hier oder im Streaming). Wobei ich sagen muss, dass zumindest das Mann / Frau Verhältnis am Samstag nicht so vernichtend ungleich war, wie man(n) es durchaus gewohnt sein mag. Bzgl. BIPoc und Menschen mit Behinderung stimmte es allerdings. Leider.

Aber zurück zur Musik, die einen hörenswerten Mix aus Melodic Punk mit Emo-Einschlägen bereit hielt. Live fand ich die Kompositionen böser, als ich sie vom Album her erwartet hätte. Gut so! Meine persönlichen Highlights waren Distant und der rotzige Opener Sanctuary:

Ach ja, und Meat Free Youth gefällt mir allein schon inhaltlich ausgesprochen gut. Am Merch-Stand gab es das entsprechende Shirt zur Nummer: Meat is for losers!

Shoreline tourt noch bis in den Herbst hinein durch Deutschland (siehe hier). Am 21. Oktober sind sie als Headliner abermals in Bremen, Support: TIED (Location: Bürgerhaus Weserterrassen). Eine dringende Besuchsempfehlung sei hiermit ausgesprochen.

Silverstein
Dann kurz verschnaufen an der frischen Luft, während der Umbaupause. Wetter immer noch gut, Baustelle vorm Tower immer noch unschön, wieder rein. Bierchen geholt, Lob an die Tower-Crew, wie immer schnell und freundlich. Zeit für den Hauptact.

Spätestens als die fünf Kanadier, unterstützt von Queens We Will Rock You Beat die Bühne betraten und die ersten Textzeilen aus Bad Habits, durch den Tower hallten, waren auch die letzten Zweifel, ob der Publikumszahlen beseitigt. Mit etwa 300 Zuschauern war der Tower verdammt nah an seiner Kapazitätsgrenze für Liveshows. Von jetzt auf gleich wurde die Band um Frontmann Shane Told frenetisch gefeiert. Es wurde gepogt, gesprungen, geklatscht und lauthals mitgesungen: Why do I keep chasing bad feelings? I keep breaking down. I never deal with it. Drown ‚cause I don’t wanna swim. I’m good with bad habits! Eindeutig: Die Menge war dankbar, dass Silverstein mal wieder über den großen Teich gekommen war.

hier ein „baugleicher“ Konzertstart aus Anaheim

Es dauerte nicht lange, da gestand auch Shane, wie gut es tut nach so langer Zeit zurück zu sein. Zurück in Deutschland (mit seinen, Zitat: „wertschätzenden Fans“) und überhaupt zurück auf der verdammten Bühne! „Denn dafür machen wir das!“ Und dass die Jungs Bock hatten, war zu erkennen. Musikalisch ging es tight und tief quer durch die elf Studioalben umfassende Diskographie (zählt man den Exoten „Short Songs“ mit).

Ein klares Highlight des Abends war ein ausladendes Medley, bestehend aus Passagen u.a. aus The Artist, Sacrifice, I Am the Arsonist und The Continual Condition. Über Social Media hatten sich während des Lockdowns offenbar sehr viele Fans diese und andere Songs für die nächste Setlist gewünscht und zack, wurde es knackig komprimiert umgesetzt. Hier sieht man: Die Fans werden gehört, selbst wenn sie weit, weit weg sind!

Hauptsächlich wurde jedoch das Anfang Mai frisch erschienene Album Misery Made Me bespielt, welches durchaus metal-lastiger daher kommt, als die Vorgänger. Der Stimmung war es absolut zuträglich. Stellvertretend sei hier Bankrupt genannt:

In meinen Ohren dabei absolut beeindruckend, wie präzise Shanes Stimme nach über 20 Jahren Bandgeschichte live noch immer funktioniert. Sowohl die Cleanvocals saßen – gerade in Verbindung mit der Stimme von Leadgitarrist Paul Marc Rousseau toll anzuhörenund auch die Screams sind weiterhin beeindruckend beängstigend. Hier findet ihr einen kleinen Bericht, wie Shane das Schreien erlernte.

Und da ich gerade im Lobhudelmodus bin: Paul Koehlers Schlagzeugspiel in Your Sword Versus My Dagger war naturgemäß eine unglaubliche Performance und Paul Marc Rousseaus Tapping bringt Smile In Your Sleep in meinen Augen – und Ohren – einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert.

Zwei weitere Highlights offenbarten sich in der Zugabe. Erst kam Shane ganz allein zurück auf die Bühne – eine Akustikgitarre vor dem Bauch – und lieferte eine intime Version von Aquamarine

… ehe Silversteins Musikalität und ihr breit gefächertes Songwriting als gesamte Band in der Akustikversion des Songs Where Are You? vom 2020er Album A Beautiful Place To Drown unterstrichen wurde. Eine moderne Rockballade frei von Pathos und Schmalz:

Zum Rausschmiss wurde es dann nochmal schweißtreibend. Mit dem punkigen Doubleheader My Heroine und The Afterglow gab es ein letztes Mal links wie rechts auf die Fresse. Und nach dem Verklingen der letzten Töne war an jenem Abend vom Circle of Death bis zum Crowdsurfen alles dabei gewesen. Wunderbar!

Nachdem uns Silverstein also glückselig in die lauwarme Bremer Nacht – oder besser into the afterglow – entlassen hatte, folgte unmittelbar der erste Kulturschock: Direkt vor dem Tower zog eine ungesund gut gelaunte Gruppe Menschen vorbei, die aus voller Kehle „Skandal im Sperrbezirk“ mitgrölte. Auf den unerwarteten Schreck schlossen wir das Kapitel im nächsten Irish Pub. Und so endete der Abend, wie er angefangen war: Mit einem gepflegten Schreckbier!
Auf Hardcore! Auf Rosi!
Auf Hardcore Rosi!

Instagram:
@shoreline_band
Silverstein

100 Kilo Herz im Tower, Bremen, 23.10.2021

von Alex

Ach, wie war das schön, Leute! Mein erstes Konzert seit Skindred im Schlachthof vor fast zwei Jahren (Konzertbericht hier)! Und wie kam es dazu? Nun, Felix, der sich die Tickets für 100 Kilo Herz schon vor Ewigkeiten gekauft hatte (siehe seinen Tipp aus’m Pit hier), war spontan verhindert. Und weil des einen Leid, des anderen Freud ist, nutzte ich die Gelegenheit und ging mit Marco am Samstagabend voller Vorfreude in den Tower. Dass wir etwas eingerostet waren, zeigte sich dann, als wir den Eingang der altbekannten, etliche male besuchten Location nicht gleich finden konnten: Wie sich herausstellte ist der ganze Komplex derzeit eine “eingepackte“ Baustelle und in die Heiligen Hallen des Towers kommt man nur über eine in Holz-Front eingelassene Bedarfstür:

Endlich wieder im Tower

Als die erste Hürde dann gemeistert war und wir nach erfolgten Corona-Einlassregeln tatsächlich an der Theke standen, beseelt das erste Bier in der Hand, war alles irgendwie „wie immer“, wenngleich man sich ohne Maske in Mitten so vieler fremder Menschen fühlte, als hättte man vergessen seine Hose anzuziehen. Ein komisches Gefühl!

Wir waren zeitig gekommen und konnten vom Tresen aus gut beobachten, wie sich der Laden schnell füllte. Auch die Turbojugend Heiligenrode gab sich die Ehre, liebe Grüße! Trotz der einströmenden Menschenmengen, blieben vereinzelnd auch Lücken vor der Bühne. Die Show war nicht ausverkauft. Ein bisschen schade für die Band, wobei sich Sänger Rodi später am Abend mehr als zufrieden mit der Zuschauerzahl zeigte und natürlich schade für den Tower, der am Samstag sein erst zweites Post-Corona-Konzert beherbergte.

Pensen Paletti

Da ich zu dem Ticket also kam wie die Jungfrau zum Kinde, hatte ich mich weder mit der Vorgruppe noch mit dem Haupt Act intensiver beschäftigt (außer im Rahmen von Felix‘ Tipp). Umso überraschter war ich, als Pensen Paletti die Bühne betrat: Ein junger Mann, offenkundig aus Hamburg stammend, betrat mit seiner Gitarre die Bühne und sagte sowas wie: „Hallo, ich bin die Vorband!“ Ah, okay, verstehe!

Darauf, was dann passierte, waren Marco und ich allerdings nicht gefasst: Pensen Paletti spielte alleine Gitarre, Bass und Schlagzeug, aber nein, nicht mit einer schnöden Loop Station – das ist doch so 2010er! – nein, er hat sich dafür seine eigene sogenannte “Bumm-Gitarre“ gebastelt: Der Daumen der rechten Hand spielte den Bass und die restlichen Finger wechselten zwischen Gitarrensaiten und fett klingenden Drum-Sounds, die über runde weiße Knöpfe am unteren Gitarrenkorpus gespielt wurden (siehe Foto links). Allein die Batterie an dafür benötigten Effektgeräten ließ mein Herz 100 Kilo höher schlagen (siehe unten):

Pensen Paletti sang, schrie, spielte Bass, Gitarre, Drums und tippelte mit den Füßen auf den Effekten herum. Alles gleichzeitig! Der Mann ist eine Krake – mit Mini-Gehirn in jedem Finger und Fuß. Allein das Medley mit Klassikern wie Sad but true, Billy Jean oder Killing in the Name war eine Machtdemonstration. Unten ein Riff-Jam:

Und dem nicht genug hat Pensen Paletti, der mit den Projekten Das Pack und Monsters of Liedermaching durchaus auch mit anderen Menschen zusammen musiziert, einen sehr speziellen Humor, den ich abgefeiert habe. Seine Lieder sind so trocken und abstrus witzig – wie übrigens auch seine Statements zwischen den Songs, dass man gar nicht weiß, ob man lachen, tanzen oder headbangen soll. Machen wir es wie der Künstler: Alles gleichzeitig! Irgendwie kam mir schnell der Vergleich „Helge Schneider mit Stromgitarre“ in den Kopf. Mein Favorit am Samstag war das musikalisch wie textlich verrückt witzige: Stöckelschuh!

Auch Marco war sehr angetan und hat sich gleich die EP Bumm die Welt als Vinyl gesichert. Mit Autogramm, vielen Dank dafür! Im Mai ist Pensen Paletti wieder im Tower. Dringende Empfehlung!

100 Kilo Herz

Bis hierhin hatte es sich schon absolut gelohnt, aber da war doch noch was? Ach ja, der Headliner! Auf dem Weg zur Bühne kamen mir die Jungs witzigerweise auf der Treppe entgegen: Sie runter, ich rauf. Die Band wirkte richtig gut gelaunt, lachte, scherzte und schien vor Spiel(vor)freude fast zu platzen.

Haake Beck Kiste hinten links! 🙂

Rodi, der übrigens nicht nur singt, sondern auch den Bass spielt (s.o.), schrie in seinem schwarzen Kettcar-Bolzenschneider-Shirt: „Oh-oh, ich will einer von den Guten sein!“ Und selbst wenn die Textzeile aus dem Opener mit zynisch-ironischem Unterton zu verstehen ist, sind 100 Kilo Herz genau das: Von den Guten! Wie auch Feine Sahne Fischfilet sind sie mehr als eine Ska-Fun-Punkrock-Band. Sie sind ein Gradmesser für Anstand in unanständigen Zeiten. Die so wichtige Gegenstimme zum Rechtsruck- und -rock, der gerade (aber nicht ausschließlich!) im Osten – der Heimat der Jungs – wuchert wie ein Geschwür. Kantige Textzeilen, deren Botschaft im Halse stecken bleibt, während E-Gitarren und Bläser zum Springen motivieren: Der erste Moshpit ließ nicht lange auf sich warten. Es folgten die Wall of Death und diverse Crowd Surfer.

Neben den Gassenhauern Pogo und Polka, der Späti an der Klinik oder Kleinstadtdisco („Bevor du auf die Welt kamst wurde hier der Hund begraben. Und niemand gräbt ihn wieder aus. Und wenn du hier Witze über Juden machst, kriegst du von überall Applaus!“) rastete der Pit auch beim Wir sind Helden Cover Denkmal so richtig aus. Ein Song, der ohne weiteres auch aus der Feder der Leipziger hätte stammen können.

Was ich mich an dem Abend noch gefragt habe: Wer hat am “Tag danach“ eigentlich weniger Stimme übrig? Sänger Rodi oder doch Claas und Flecki, die, wenn sie nicht gerade in Saxophon und Trompete blasen, jede einzelne Silbe – ohne Mikrophon – mitbrüllen?!

Nach minutenlangen Nazis-Raus-Sprechchören wechselte Rodi dann zur Zugabe auf die Akustikgitarre und gab solo die bedrückende Nummer Wenn es brennt zum Besten. Seine Musiker-Kollegen lauschten andächtig bei ‘nem Feierabend-Bierchen: „Du weißt genau ich wollte nie kämpfen. Doch wenn es brennt, passen wir auf uns auf!“

Aber was heißt „Feierabendbierchen“?! Danach mussten die Lauscher für zwei Songs auch nochmal selber ran… Und dann, nach knapp eineinhalb Stunden Show, war‘s wieder vorbei. Wie gesagt: Mein erstes “richtiges“ Konzert nach fast zwei Jahren Abstinenz! Und es war ein wunderbares! Die Band hatte Bock, natürlich! Die Stimmung war ausgelassen und friedlich. Vor und auf der Bühne wurde aufeinander geachtet so wie man es von entsprechenden Konzerten gewohnt ist. Alle waren glücklich, mit Gleichgesinnten endlich wieder Live-Musik zu hören. Um so schöner, dass Rodi auch nochmal auf die schwierige Situation der Spielstätten – wie eben dem Tower – hinwies. Ohne sie wird‘s still: Lasst die Musik an!

Die Ankündigung, dass 100 Kilo Herz im März 2022 erneut in Bremen gastiert, wurde jedenfalls frenetisch gefeiert. Dann hoffentlich vor ausverkauftem Haus! Der Location (vielleicht wieder dem Tower?) und 100 Kilo Herz wäre es zu wünschen. Last but not least sei an dieser Stelle versprochen, dass bis dahin niemand mehr ins Kino muss, um den neuen Til Schweiger Film zu sehen (höre Drei Jahre ausgebrannt). Der läuft dann zum Glück schon nicht mehr!