Silverstein im Tower, Bremen, 11.06.2022

von Alex

die Jungs hatten Bock: Silverstein am Samstag im Tower

Als Felix und ich am Samstag gut gelaunt Richtung Tower schlenderten, hatten wir zwar richtig Bock. Doch befürchteten wir eine des Abends nicht angemessene überschaubare Zuschauerzahl vor der Bühne. Zum einen drehen in den aktuell unsicheren, inflationären Zeiten die meisten Menschen ihre Euro notgedrungen zweimal um und zum anderen brannte schon den ganzen Tag die Sonne vom Himmel. Eher Schlachte- oder Uniseewetter als Club-Wetter also. Und dann ist da ja auch noch dieses Virus…

Gegen 19:30 Uhr trafen wir ein und unsere Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Erstmal zur Theke und zwischen ein paar verlorenen Menschengrüppchen ein Schreckbier verzehrt. Im Laufe der Zeit wurde es aber doch merklich voller, sodass der Bereich vor der Bühne zum Start der Supportband Shoreline gut gefüllt war. Shoreline? Sagt euch was?! Ja, Felix hatte über die aktuelle Platte der Münsteraner mit Namen Growth ein detailliertes Now Playing verfasst (lese und höre hier).

Support
Als die vier Jungs losbretterten, fiel mir als erstes der bemerkenswert dichte und kristallklare Sound auf. Nur die Textzeilen waren – zumindest von unserer Position aus – kaum zu verstehen, was bei den wichtigen Botschaften der Songs etwas schade war. Trotzdem, großen Respekt an Band und Mischer für diesen durchdringenden, satten Livesound. Und apropos Livesound: Schlagzeuger Martin Reckfort konnte mich ziemlich schnell als Fan gewinnen, war er ein verlässlicher Taktgeber auf hohem Niveau, der komplett frei von Theatralik seinen Job erledigte. Ein bisschen wie ein Fußball-Torwart, der einfach den Ball hält, anstatt eine Flugshow abzuziehen und sich danach viermal abzurollen.

Sänger und Gitarrist Hansol Seung war mit Beginn des ersten Taktes sofort da, schrie und sang, hämmerte auf Saiten ein und sprang über die Bühne. Mimik und Gestik verrieten volle Authentizität, Energie und Wut. Sein Shirt mit der Aufschrift „No one is illegal“ und der Regenbogen-Gitarrengurt verrieten die Werte des Mannes mit koreanischen Wurzeln. In einer kurzen Atempause wurde es zwischen zwei Songs gesellschaftskritisch, als Hansol sich fragte, weshalb Hardcore Shows bloß so wenig divers seien, obwohl die Szene selbst doch tolerant und für jede*n offen sei. Im Publikum weiße Männer, wohin das Auge reichte. Passenderweise hatten wir genau diese Frage vor Kurzem auch in unserem Interview mit den Punkern von Mischwald diskutiert (höre u.a. hier oder im Streaming). Wobei ich sagen muss, dass zumindest das Mann / Frau Verhältnis am Samstag nicht so vernichtend ungleich war, wie man(n) es durchaus gewohnt sein mag. Bzgl. BIPoc und Menschen mit Behinderung stimmte es allerdings. Leider.

Aber zurück zur Musik, die einen hörenswerten Mix aus Melodic Punk mit Emo-Einschlägen bereit hielt. Live fand ich die Kompositionen böser, als ich sie vom Album her erwartet hätte. Gut so! Meine persönlichen Highlights waren Distant und der rotzige Opener Sanctuary:

Ach ja, und Meat Free Youth gefällt mir allein schon inhaltlich ausgesprochen gut. Am Merch-Stand gab es das entsprechende Shirt zur Nummer: Meat is for losers!

Shoreline tourt noch bis in den Herbst hinein durch Deutschland (siehe hier). Am 21. Oktober sind sie als Headliner abermals in Bremen, Support: TIED (Location: Bürgerhaus Weserterrassen). Eine dringende Besuchsempfehlung sei hiermit ausgesprochen.

Silverstein
Dann kurz verschnaufen an der frischen Luft, während der Umbaupause. Wetter immer noch gut, Baustelle vorm Tower immer noch unschön, wieder rein. Bierchen geholt, Lob an die Tower-Crew, wie immer schnell und freundlich. Zeit für den Hauptact.

Spätestens als die fünf Kanadier, unterstützt von Queens We Will Rock You Beat die Bühne betraten und die ersten Textzeilen aus Bad Habits, durch den Tower hallten, waren auch die letzten Zweifel, ob der Publikumszahlen beseitigt. Mit etwa 300 Zuschauern war der Tower verdammt nah an seiner Kapazitätsgrenze für Liveshows. Von jetzt auf gleich wurde die Band um Frontmann Shane Told frenetisch gefeiert. Es wurde gepogt, gesprungen, geklatscht und lauthals mitgesungen: Why do I keep chasing bad feelings? I keep breaking down. I never deal with it. Drown ‚cause I don’t wanna swim. I’m good with bad habits! Eindeutig: Die Menge war dankbar, dass Silverstein mal wieder über den großen Teich gekommen war.

hier ein „baugleicher“ Konzertstart aus Anaheim

Es dauerte nicht lange, da gestand auch Shane, wie gut es tut nach so langer Zeit zurück zu sein. Zurück in Deutschland (mit seinen, Zitat: „wertschätzenden Fans“) und überhaupt zurück auf der verdammten Bühne! „Denn dafür machen wir das!“ Und dass die Jungs Bock hatten, war zu erkennen. Musikalisch ging es tight und tief quer durch die elf Studioalben umfassende Diskographie (zählt man den Exoten „Short Songs“ mit).

Ein klares Highlight des Abends war ein ausladendes Medley, bestehend aus Passagen u.a. aus The Artist, Sacrifice, I Am the Arsonist und The Continual Condition. Über Social Media hatten sich während des Lockdowns offenbar sehr viele Fans diese und andere Songs für die nächste Setlist gewünscht und zack, wurde es knackig komprimiert umgesetzt. Hier sieht man: Die Fans werden gehört, selbst wenn sie weit, weit weg sind!

Hauptsächlich wurde jedoch das Anfang Mai frisch erschienene Album Misery Made Me bespielt, welches durchaus metal-lastiger daher kommt, als die Vorgänger. Der Stimmung war es absolut zuträglich. Stellvertretend sei hier Bankrupt genannt:

In meinen Ohren dabei absolut beeindruckend, wie präzise Shanes Stimme nach über 20 Jahren Bandgeschichte live noch immer funktioniert. Sowohl die Cleanvocals saßen – gerade in Verbindung mit der Stimme von Leadgitarrist Paul Marc Rousseau toll anzuhörenund auch die Screams sind weiterhin beeindruckend beängstigend. Hier findet ihr einen kleinen Bericht, wie Shane das Schreien erlernte.

Und da ich gerade im Lobhudelmodus bin: Paul Koehlers Schlagzeugspiel in Your Sword Versus My Dagger war naturgemäß eine unglaubliche Performance und Paul Marc Rousseaus Tapping bringt Smile In Your Sleep in meinen Augen – und Ohren – einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert.

Zwei weitere Highlights offenbarten sich in der Zugabe. Erst kam Shane ganz allein zurück auf die Bühne – eine Akustikgitarre vor dem Bauch – und lieferte eine intime Version von Aquamarine

… ehe Silversteins Musikalität und ihr breit gefächertes Songwriting als gesamte Band in der Akustikversion des Songs Where Are You? vom 2020er Album A Beautiful Place To Drown unterstrichen wurde. Eine moderne Rockballade frei von Pathos und Schmalz:

Zum Rausschmiss wurde es dann nochmal schweißtreibend. Mit dem punkigen Doubleheader My Heroine und The Afterglow gab es ein letztes Mal links wie rechts auf die Fresse. Und nach dem Verklingen der letzten Töne war an jenem Abend vom Circle of Death bis zum Crowdsurfen alles dabei gewesen. Wunderbar!

Nachdem uns Silverstein also glückselig in die lauwarme Bremer Nacht – oder besser into the afterglow – entlassen hatte, folgte unmittelbar der erste Kulturschock: Direkt vor dem Tower zog eine ungesund gut gelaunte Gruppe Menschen vorbei, die aus voller Kehle „Skandal im Sperrbezirk“ mitgrölte. Auf den unerwarteten Schreck schlossen wir das Kapitel im nächsten Irish Pub. Und so endete der Abend, wie er angefangen war: Mit einem gepflegten Schreckbier!
Auf Hardcore! Auf Rosi!
Auf Hardcore Rosi!

Instagram:
@shoreline_band
Silverstein

Shoreline – Growth (2022)

Von Felix

Mit Growth brachten Shoreline ihr zweites Studioalbum auf den Markt. Dieses Album erschien vor vierzehn Tagen (04.02.2022) bei End Hits Records. Der Vorgänger Eat My Soul erschien 2019 noch bei Uncle M. Beide wurden im Kaputtmacher Studio Bochum von Jochen Stummbillig produziert. Das neue Album umfasst 12 Tracks zwischen Emo und Punk.

So viel zu den Rahmendaten, kommen wir jetzt zu den Details:

Da ich mich durchaus als Fan des Uncle M-Labels bezeichnen kann und dort immer mal nach Musik stöbere, sind mir Shoreline nicht unbekannt, allerdings hat sich die Band aus Münster bei mir auch nie wirklich nach vorne spielen können. Für mich war dieses zweite Album der Anlass, sie nochmal etwas ins Rampenlicht zu holen und ich kann vorab sagen, dass sich das durchaus gelohnt hat.

Gleich zu Beginn gibt es mit I Grew up on Easy Street eine Visitenkarte, auf der keine Augenwischerei betrieben wird: nach einem ruhigen Emo-Einstieg, steigert sich der Song in Musik und Gesang bis zum rockig geshouteten Chorus. Dieses Prinzip wiederholt sich und der Song endet konsequent in einem Up-Tempo Part garniert mit „schöner“ Gitarre. Man bekommt hier also einen gelungenen Einstieg serviert, der perfekt auf alles Weitere vorbereitet, denn die folgenden Songs sind durchaus variantenreich, bleiben aber im Grundton gleich.

Lied 2 Distant ist eines von 4 Features auf dem Album. Smile And Burn haben sich hier mit angeschlossen und stark mit eingebracht. Der Song ist eine richtig gute Melodic Punk Nummer. In meinen Augen sind das eh die stärksten Songs auf dem Album, was ich aber vielleicht auch so einschätze, weil ich ein nicht so großer Emo-Fan bin. Ich finde die melodiös rockigeren Songs wirklich sehr gelungen, weil sie modern klingen, aber gleichzeitig etwas Retro-Charme der Jahrtausendwende versprühen. Das ist auch bei Lied 3 Madre der Fall, für mich persönlich ein Highlight auf der Platte.

Meat Free Youth ist hingegen für mich etwas schwieriger, da mir da die recht reduzierten Strophen mit „Shoop Shoop Song“ Background gar nicht gefallen. Text und Approach sind dabei allerdings eine Empfehlung zum genauen Hinhören. Die Lyrics des Albums gefallen mir ohnehin sehr gut, denn ähnlich wie unser Alex bin auch ich ein Freund davon, wenn sich Bands mit relevanten Themen befassen, da muss ich die transportierte Meinung oder Haltung auch nicht immer zu einhundert Prozent teilen. Nebenbei kurz der Hinweis auf Alex Interview mit Lizal von „Die Dorks“, in dem sich die beiden unter anderem auch genau darüber austauschen (Hier zu hören).

Das folgende Western Dream erinnert am Beginn an Kettcar, wird im Verlauf aber wieder schneller und auch im Gesang rauer, fällt insgesamt aber etwas ab. Ähnlich geht es mir auch bei Lied 6 Konichiwa. Auch Lied 8 White Boys Club, Lied 9 Disconnected und Lied 10 Holy Communion haben alle insgesamt wirklich gute melodic Parts, und schöne Varianten in der Gesangsstimme von sehr klar bis ruppig, können mich aber nicht vollständig überzeugen, warum begründe ich im Fazit noch genauer.

Nebenbei: Bei diesen Liedern musste ich daran denken, dass ich mal mit jemandem sprach, der den hörbar deutschen Akzent nervig findet. Bei diesen Liedern ist mir das in einigen Passagen auch aufgefallen, mich stört das allerdings kaum bzw. spielt das in meiner abschließenden Bewertung keine Rolle.

Lied 7 Sanctuary holt mich wieder zurück, Hier wurde die Songstruktur auch etwas abgeändert. Ein strammer Beginn, dann eine ruhige Bridge und dann wieder volle Energie. Und auch die Bass-Bridge mit anschließend kurzem Breakdown finde ich sehr gelungen und auch Track 11 Raccoon City kann mich mit bereits benannten Stilmitteln wieder mehr packen und bildet dann einen guten Kontrast zur abschließenden Titel gebenden Ballade Growth. Da war ich erst etwas enttäuscht. Der Gesang klingt phasenweise schon etwas nach Kirchensonntag mit Paul Simon, letztlich blieb es aber doch gut hängen, gerade weil es deutlich ruhiger zugeht als auf dem Rest der Platte und sich der Indie-Song als Abschluss damit gut abhebt.

Als Fazit bleibt mir zu sagen, dass mir das zweite Studioalbum Growth von Shoreline wirklich gut gefällt, ich aber auch noch Luft nach oben sehe. Anhand der Klickzahlen konnte ich feststellen, dass ich die Songs mit weniger Aufrufen mehr schätze als die häufiger abgerufenen Songs. Wie gesagt, ich bin nicht so ein großer Emo-Fan und möchte meine persönlichen Vorlieben hier zwar betonen, indem ich meine Lieblingssongs Madre, Sanctuary und Western Dream nochmal hervorhebe, aber weniger in die Gesamtbewertung mit einbeziehen, als einen Aspekt, der mir insbesondere im zweiten Drittel des Albums auffiel. Einige Lieder sind von der Komposition und Konzeption in meinen Augen unter Wert aufgenommen, da ihnen an entscheidenden Stellen einfach der Druck fehlt. In meinen Augen liegt das eher an der Abmischung, die Teile der Drums und Bässe phasenweise so zurückschraubt, dass diese den in der Songstruktur anvisierten Effekt letztlich schuldig bleiben. Das trübt bei mir das Hören des Albums, da ich dann nach der Hälfte gedanklich aussteige und die Musik und die Texte mehr oder weniger an mir vorbeiziehen.

Da würde ich mir für kommende Aufnahmen wünschen, dass das im Sinne der Musik(er) verbessert wird.

Ich muss dennoch sagen, dass sich Shoreline mit Growth bei mir weiter nach vorne gespielt haben und auch einige Songs auf meine „Februar Playlist“ gewandert sind. So bleibt unterm Strich eine gute Bewertung mit siebeneinhalb von zehn Wellenbrechern.

Besucht und folgt Shoreline auf Instagram. Für dieses Jahr sind einige Konzerte bereits terminiert, hoffen wir, dass alles stattfinden kann!