R.E.M. – Murmur (1983)

von Alex

Die Musikwelt horcht auf: Michael Stipe, Sänger der legendären US-amerikanischen Alternative-Band R.E.M., hat für 2023 – nach langer musikalischer Abstinenz* – sein erstes Solo-Album angekündigt, unterdessen R.E.M.’s Debütwerk Murmur in diesem Monat 40 Jahre alt wird bzw. wurde (Release: 12.4.1983). Herzlichen Glückwunsch! Damit ist Murmur das bis dato älteste rezensierte Album im Wellenbrecherbereich.

Jubiläum und Neuerscheinung – zwei Gründe für mich, nochmal genauer hinzuhören, wie eine der prägendsten Bands der 90er ihre Weltkarriere begann. Und als kleiner Teaser sei an dieser Stelle verraten, dass R.E.M. in den kommenden Wochen nochmal Thema in unserem Podcast sein wird (seid also gespannt und bleibt unbedingt am Ball!).

Inspiration
Auf den ersten Blick mag man es vielleicht kaum glauben, aber der Einfluss, den R.E.M. auf spätere, wichtige Bands genommen hat, ist kaum hoch genug zu bewerten. Da wären z.B. Radiohead, The Pixies, Pearl Jam (Eddie Vedder: „I believe I listened to it [Murmur] tvelve-hundred-sixty times“) oder Nirvana, um nur einige wenige zu nennen. Kurt Cobain gab sogar zu: ”If I could write just a couple of songs as good as what they’ve written… I don’t know how that band does what they do. God, they’re the greatest.” (mehr zur Beziehung Stipe/Cobain dann im Podcast).

Rückblick
Beamen wir uns zurück ins Jahr 1983, kann besichtigt werden, dass der Trend klar zum Heavy Metal und Hard Rock ging. Metallica und Dio debütierten (mit “Kill Em All“ respektive “Holy Driver“) und Bands wie Mötley Crüe, Def Leppard, Accept, Iron Maiden oder Black Sabbath waren mit ihren Neuerscheinungen im selben Jahr ebenfalls in aller Munde. Als Gegenentwurf dazu betraten wie aus dem Nichts vier schüchterne „Jungs“ aus Athens (Georgia) die Weltbühne und spielten ihre unterschwellig rockbare, latent zur Melancholie neigende Musik. Sänger Michael Stipe war so zurückhaltend, dass er bei ihrem ersten landesweit ausgestrahlten Auftritt bei David Letterman nach der Performance kein einziges Wort mit dem Moderator wechselte, sich stattdessen in den Hintergrund setzte. Die Fragen des Latenight-Talkers beantworteten die Saiten-Instrumentalisten Peter Buck (Gitarre und damals arbeitend im Schallplattenladen) und Mike Mills (meistens Bass), siehe und höre hier:

der zweite Song im Video „South Central Rain“ sollte später auf dem Zweitling von R.E.M. – Reckoning – erscheinen

Zum Album:
Fangen wir für die Rezension mit dem hier präsentierten Song an, RE.M.s erste Single überhaupt aus dem Jahr 1981 (!) und Opener des Albums: Radio Free Europe ist klar der Hit des Erstlings und ein eindeutiger Fingerzeig, wohin die Reise mit R.E.M. noch gehen könnte.
Textlich ist Sinlge wie Album oft kryptisch oder schlicht kaum zu verstehen. Murmur (Gemurmel) halt. Einer der Gründe, weshalb auch eingangs zitierter Vedder das Album in Ermangelung eines Booklets mit Songtexten so oft hörte: Er wollte unbedingt verstehen, was der Sänger da von sich gibt.

Bei Talk About The Passion oder auch Perfect Circle musste ich an The Smiths denken, obwohl diese beinahe zeitgleich in England ihre Karriere begannen, sodass eine bewusste gegenseitige Inspiration eher unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen ist (das Debüt von R.E.M. war ein knappes Jahr früher dran).

Und was macht das Album besonders?
Kurze Antwort: Die Eigenarten der Musiker. Peter Buck hat die herausragende Fähigkeit, sich und seine Gitarre zurückuznehmen, um Platz zu schaffen für die tragenden (Gesangs)melodien des Songs, sodass Stimme und Gitarrenpattern beinahe miteinander zu tanzen scheinen oder – wie in dem starken Sitting Still – wechselruf-artig miteinander zu spielen. Buck ist eine oft unterschätzte Triebfeder in der Maschine und wichtige Waffe in R.E.M.s hoher Kunst der Melodienfindung.

Was sich auf Murmur bereits ankündigt, wird im Laufe der gesamten R.E.M. Karriere zur Gewissheit und zu einer Art Signature Sound. Denn Buck spielt (Ausnahmen inbegriffen) keine Soli. In der R.E.M. Biographie von David Buckley erklärt er es ganz pragmatisch:

“I know that when guitarists rip into this hot solo, people go nuts, but I don’t write songs that suit that and I am not interested in that. I can do it if I have to, but I don’t like it.”
Peter Buck

Diese zurückhaltende Untermaltung, gespickt mit liebevollen Details, macht sein Spiel essentiell und einzigartig, sodass die Besonderheit der Band und ihre Upside im Allgemeinen – früh ersichtlich werden. Der Song Catapult beispielsweise könnte als der Urgroßvater von R.E.M.s Übersong Losing My Religion durchgehen, nicht nur, aber auch wegen der mandolin-esken Gitarre.

Und Mike Mills, der sich neben dem meist melodiös statt rhythmisch interpretierten Bass auch für die Tasteninstrumente verantwortlich zeichnet, schließt dank eindrucksvoller „Gegenmelodien“ die fehlenden Zwischentöne und Ghost Notes. Seine Stimme im Background harmoniert dabei perfekt mit der von Stipe und sorgt für wohlige Wärme. Stipes Stimme ist auf dem Debüt zwar noch roh, aber die ersten Knospen sind klar zu erkennen, ehe die Charakteristik seines unverkennbaren Timbres ab dem Album Document (1987) gänzlich zur Blüte gereift.

kurzer Exkurs:
Musik ist ja immer auch persönliche Erinnerung und Assoziation. Ich habe nicht die geringste Ahnung wieso, aber bei R.E.M. Songs aus den 80ern und 90ern – und das sind ja bekanntlich eine Menge -, muss ich immer an alte Tom Hanks Filme aus der gleichen Zeit denken. Kann mir jemand erklären, wie das kommt? Ich weiß es wirklich nicht! Einen R.E.M. Song zu einem Tom Hanks Film habe ich nicht gefunden, wenngleich die Band gefühlt in jedem anderen Film zu der Zeit zu hören ist. Die einzige mir bekannte Parallele: Michael Stipe hat 1994 die Rubrik Best Male Performance bei den MTV Movie Awards präsentiert, die Tom Hanks dann mit dem Film Philadelphia gewann.

Fazit:
Murmur ist ein bockstarkes Debüt, das in „harten“ Metal-Zeiten die Musikwelt verzaubern konnte. Neben dem perfekten Katalysator für eine erfolgreiche Weltkarriere (der treibende Ohrwurm Radio Free Europe), hören wir viele melancholische (Zwischen)töne, deren Schwermut und Sehnsucht stets auf subtile Weise mitschwingen und der autodidaktischen Band (außer Mills) großes Songwriting attestieren. Im letzten Viertel fällt das hohe Niveau ein wenig ab, aber der Grundstein war eindrucksvoll gelegt. 7,5/10 Wellenbrechern

Mehr zu Stipe, Buck und Co. wie eingangs erwähnt bald bei uns im Podcast – einhergehend mit der dringenden Empfehlung, sich auch mal die tollen Schattensongs dieser großen Band zu Gemüte zu führen!

Hier eine kurze Auswahl, weder in alphabetischer, noch in chronologischer Reihenfolge und erst recht nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit:

Country Feedback
Try not to breathe
Half a world away
Find the river
So. Central Rain (höre auch oben, zweiter Song im ersten Video)
Driver 8
Sweetness follows
Monty got a raw deal
I’ll take the rain
E-Bow the letter
Daysleeper
Why not smile
Walk unafraid
Leaving New York

* ein paar wenige Songs gab es in den vergangenen Jahren von ihm zu hören. Einiges davon wird vermutlich auf dem Album zu finden sein.