Eddie Vedder – Earthling (2022)

von Alex

Zugegeben, selten musste ich mir für eine Rezension so viele Gedanken hinsichtlich der Strukturierung machen wie zum aktuellen Soloalbum des Pearl Jam Frontmanns. Dies hat hauptsächlich drei Gründe:

1.: Auf diesem Album geht so unglaublich viel vor sich – musikalisch wie personell -, dass der Rezensent schnell Gefahr läuft, wichtige Aspekte auszulassen.
2.: Ich wollte – nein, ich konnte nach mehrmaligem Hören – nicht vollumfänglich in die Lobeshymnen vieler Fans und Kritiker mit einsteigen (ein Sakrileg?).
3.: Als langjähriger Pearl Jam Sympathisant und eingefleischter Eddie Vedder Fan war ich um ganz besondere Objektivität bemüht (funktioniert in der persönlichen Wahrnehmung von Musik natürlich nicht!).

All dies im Hinterkopf behaltend, möchte ich mit einem Zitat von Bono beginnen, der einmal sagte:
„Die Wut ist eine fundamentale Komponente von Rock ’n‘ Roll. Viele große Rockbands hatten sie. Daher waren The Who auch so großartig. Oder Pearl Jam. Eddie Vedder hat diese Wut.“

Auch für mich ist Eddie Vedder klar einer der bedeutendsten Rocksänger der letzten 30 Jahre und seine Texte und Botschaften sind bis heute großes Kino – auf Earthling sind sie wieder sehr angriffslustig. Stark! Aber diese von Bono beschriebene Wut in der Stimme scheint kaum mehr existent zu sein. Wer will es ihm nach all den Jahren, Jahrzehnten, verdenken? Wer kann schon sein ganzes Leben lang wütend sein und klingen? Eddies “neue“ Gesangslinien, in denen er mehr haucht als singt und die letzte Silbe der Textzeile uninspiriert in die Länge zieht wie Kaugummi, als wäre ihm keine bessere Idee gekommen, scheint inzwischen der Standard zu sein. Dazu technisch tadellose, aber wenig lebendige Gitarrenriffs, die niemanden mehr ernsthaft piksen können. Im Pearl Jam Kosmos gab es auf den letzten Veröffentlichungen viel zu viel davon: Zu mutlos, zu zahnlos, zu brav, vollkaskoversicherter Dad-Rock. Beispiele zu zahlreich, um sie zu nennen. Und es tut mir weh, das zu sagen.

Auf Earthling gehen Songs wie Power of Right oder auch Brother the Cloud nun wieder in eben diese Richtung. Dabei thematisieren beide wichtige Themen. Letzterer behandelt auf beeindruckende Weise den Verlust von lieben Menschen (wie gesagt: Texte weiterhin top!).

Besser umgesetzt ist das Rockthema in Songs wie Rose of Jericho oder Good and Evil, dem wohl härtesten, schnellsten Song des Albums. Hier lodert Eddies Wut doch noch einmal kurz auf (Save you meets Do the evolution meets Spin the black circle):

es lohnt sich, genauer hinzuhören! Auch hier wieder ein starker Text!

Doch muss es immer Wut und Hardrock sein? Nein! Ganz im Gegensteil. Aber auch die einzige waschechte Ballade zündet nicht. The Haves beginnt vielversprechend, wird aber schnell so beliebig wie (fast!) alle Pearl Jam Balladen, die nach Just Breathe das Licht der Welt erblickten.

Und dabei hat Eddie sich extra prominente Unterstützung geholt, vermutlich um genau diese PJ-Vergleiche zu vermeiden. Etwas flapsig könnte man gar behaupten, hier ein neues Chili Peppers Werk vor sich zu haben. Denn alle Songs wurden mit komponiert von Ex-Chilischote und Multiinstrumentalist Josh Klinghoffer (siehe rechts im Video unten: Gitarre/Piano), der auch für diverse Gitarren, für Klavier, Bass und einige Keyboardsounds verantwortlich war, während das Schlagzeugspiel von niemand Geringerem als Chad Smith stammt (siehe auch Video unten). Auch der 31-jährige Wunderknabe Andrew Watt (siehe auch Video unten, links) komponierte munter mit. Ein cleverer Schachzug, sich für das Soloprojekt eine homogene Band ins Haus zu holen, die nicht Pearl Jam heißt. Am besten ist die Platte dennoch, wenn Eddie und Konsorten dem reinen Rock abschwören und andere Töne anschlagen. Dann ist die sie nämlich richtig, richtig gut. Also, genug der negativen Worte, was gefällt?

Genre-Potpourri
Im Opener Invincible mimt Eddie die Ground Control: Can you hear? Are we clear? Cleared for lift off, takeoff! Wir heben mit unserer Zeitkapsel ab in den 15 Jahre alten „Into the Wild“ Kosmos (grandioser Soundtrack und Film damals!). Unverhofft sehe ich Alexander Supertramp AKA Christopher McCandless wieder vor seinem Magic Bus sitzen. Nur mit dem Unterschied, dass es dieses mal nicht alleine nach „Alaska Alaska“ geht, sondern mit der ganzen Band in den Orbit: Akustikgitarren, flowende Drums, Eddies Timbre und akkurat platzierte Ahahaha’s sorgen für vertraute Wärme, gute Laune und Vorfreude. Ein gelungener Start ins Album.

Invincible when we love! We got the heavens, we got the Earth and in between we got big surf! So schaut’s aus!

Apropos Surf: Im surfpopchilligen Fallout Today ähnliche Assoziationen: Das Akustikgitarren-Mainriff erinnert an Chris Cornells Seasons, die Gesangsmelodie ist endlich wieder schön und das Heavy-Distortion-Solo verfehlt seine Wirkung ebenfalls nicht.

The Dark ist trotz des dunklen Textes eine musikalische Feel-Good-Komposition, die besonders live richtig Spaß macht und dem gerade beschriebenen Stil ebenfalls folgt:

Ja, und beim countryfolkigen Long way kommen wir direkt zum nächsten Aspekt des Albums: Die vielen musikalischen Hommagen. Denn wem hier gehuldigt wird, war in den allerseltensten Fällen so eindeutig: Wenn Ed: He took the long way on the free way anstimmt, erscheint dem Hörer unmittelbar das freundlich lächelnde Gesicht des 2017 verstorbenen Tom Pettys. Auch Eds jüngste Tochter Harper ist zu hören.

Ein Album der Hommagen und Kooperationen
Eine weitere Hommage – die Beste des Albums – findet sich auf dem orchestralen Mrs. Mills. Eigentlich sogar derer zwei: Musikalisch lassen die Beatles grüßen. Um die Ehrerweisung rund zu machen, hat hier sogleich Ringo Starr die Sticks zur Hand genommen. Die zweite Huldigung ist textlicher Natur: Es geht – wie der Titel schon verrät – um die britische Musikerin Glady Mills und ihr Klavier. Piano spielt Eddie Vedder übrigens höchstselbst. Zeitloser Track! Richtig klasse:

Kommen wir nun zu den Kooperationen, welche sich im letzten Viertel des Albums breit machen. Und man möchte Eddie, Josh Klinghoffer und Andrew Watt hinsichtlich des Songwritings laut zurufen: Ja, warum denn nicht gleich so! Nummern wie Try sind mutig und frisch. Unverkrampfter Lumberjack Rock – und das nicht nur dank Stevie Wonders Weltklasse-Highspeed-Mundharmonika-Solo. Im Background: Eds Erstgeborene Olivia.

Und welch eine Macht das Songwriting eines Elton Johns darstellt, darf im Americana-angehauchten Picture bewundert werden – ebenso wie seine markante Stimme und das ausufernde Rock-n-Roll-Pianosolo. Der Gänsehautmoment des Albums!

auch hier: Die Nummer mal live genießen, unbezahlbar!

Hier hören wir Elton Johns Hommage an Pearl Jams Alive. Und erleben seine “Retourkusche“, nachdem Eddie sich auf der letzten Soloplatte des Tasten-Ritters „The Lockdown Sessions“ verewigt hatte (E-Ticket).

Einen emotionalen Schlusspunkt der subtilen Sorte setzt das Duett Eddies mit seinem viel zu früh verstorbenem leiblichen Vater. Wiedergefundene Tonaufnahmen von Edward Louis Severson Jr. schwirren durch den kurzen, sphärischen Song im Oceans-Eleven-Rat-Pack-Thema: I‘ll be on my way!

Fazit:
Das Album beginnt aussichtsreich, schleppt sich (kurz) uninspiriert dahin, ehe die Kurve volatil, aber verlässlich nordwärts klettert. Mit dem bereits erwähnten Into the Wild Soundtrack konnte Eddie 2007 eindrucksvoll beweisen, dass er nicht nur ein großer Frontmann, Sänger und Texter ist, sondern auch ein guter Komponist. Auf Earthling entzieht er sich dieser Fragestellung aufgrund der vielen Co-Writer. Ohnehin ist es etwas ganz anderes, dreizehn Songs für eine komplette Band zu schreiben.

Die Platte ist sehr schwer zu greifen. Einerseits fehlt ein roter Faden: Rock, Folk, Southern/Country/Americana, sind ziemlich viele Eindrücke aus dem Genre-Beet. Andererseits gefällt mir ja gerade – wie eben geschildert – der beherzte Ausbruch aus den Konventionen.

Und während ich diese Zeilen schreibe, bemerke, dass ich jeden einzelnen Song hier erwähnt und wahrscheinlich trotzdem Einiges vergessen habe und mir die Vorzüge der Platte durch den Kopf gehen lasse, kriege ich direkt Bock, den Black Circle nochmal zu spinnen (ich hatte mir mal die schicke Schallplatte gegönnt, s.o., Design: Eddie Vedder alias Jerome Turner). Ja, der Erdling ist vorerst auf meinem Plattenteller gestrandet. Das ist mal sicher. Zum Ende bin ich nochmal ketzerisch, wenn ich behaupte: Earthling ist das beste Pearl Jam Album [sic] seit dem selfttitled Album 2006.

Zur Bewertung:
Bewerte ich hier beide Seiten der Vinylversion einzeln, fällt Seite A (1-6) schon ab. Bewerte ich das Werk in Gänze als eine Hommage-Genremix-Feature-Familientreffen-Kompilation unter der Schirmherrschaft eines textlich extrem meinungsstarken Vedders, vergebe ich spaßmachende 8/10 Wellenbrechern. Kein Spiel entscheidet sich in der ersten Halbzeit. Mut wird belohnt!

Boxkampf im Schwergewicht: Ten vs. Nevermind (1991)

von Alex

Diesen bzw. nächsten Monat feiern zwei der großartigsten Rockalben der 90er Jahre ihren 30. Geburtstag. Grund genug, für den Wellenbrecherbereich recht herzlich zu gratulieren, demütig Danke zu sagen und auf ganz besondere Art und Weise auf die beiden Schwergewichte einzugehen.

Denn um es etwas spannender für euch und uns zu machen, tritt Pearl Jams Debüt heute gegen Nirvanas Zweitling im Boxring über zwölf Runden gegeneinander an.

Nevermind natürlich in der blauen Ecke – Einlaufmusik hier*.

Ten in der roten Ecke – Einlaufmusik hier*.

Kampf der Titanen. Song für Song, Runde für Runde. Da Ten aber nur elf offizielle Songs hat (siehe Steckbrief), muss ich ein wenig tricksen: In Runde 12 lasse ich Nirvanas “Something in the way“ gegen “Dirty Frank“, den meiner Meinung nach stärksten Hidden Track auf Ten (europäische Version) antreten. Abschließend sei noch versichert, dass auch ich an dieser Stelle natürlich nicht weiß, welches Album am Ende mehr Runden für sich entscheiden wird, mag es zum Teil auch an der vorgegebenen Titelreihenfolge liegen. Nach dem Kampf gibt es ein kurzes Fazit, sowie ein paar Sidefacts zu beiden Werken/Bands. Und nun:

Ding, Ding, Ding!

Runde 1: Smells like Teen Spirit vs. Once

Über 1,3 Milliarden mal (!) aufgerufen auf youtube kann die Hymne einer ganzen Generation, deren Frust sich im neuartigen Grunge bahnbrach, kaum verlieren, wenngleich Once mit einem echt epischen Gitarrenriff dagegenhalten kann. Die Nummer ist zudem Teil der legendären Mamasan Trilogie, die Eddie den Einstieg in die Band bereitete (auf Demo mit Alive und Footsteps) Trotzdem: Die Runde geht klar an Nevermind. 1:0

Runde 2: In Bloom vs. Even Flow

Einer der markantesten Drum Beats der Rockgeschichte (Credits to Chad Channing – not Dave!) auf der einen Seite (In Bloom) und auf der anderen mit Even Flow ein treibendes Repeat Riff der Extraklasse, welches sich wie eine Welle durch den Song schiebt. In Bloom überzeugt mit puristischem Swag, Even Flow kontert mit Headbang-Frickel-Solo. Während andere Punktrichter links und rechts neben mir den Gleichstand ausrufen, sehe ich Ten leicht vorne. 1:1

Grimmiger Blick: „It’s not a TV studio! Josh, turn these lights out!… It’s a fuckin‘ Rock concert!“ Weltklasse!

Runde 3: Come as you are vs. Alive

Auch in Runde 3 will sich keiner der Beiden so leicht geschlagen geben. Ein Fight auf höchstem Niveau, wenn sich die zwei Klassiker des Rocks vergleichen. Come as you are ist ruhiger, Kurts Stimme umschmeichelt, die Lyrics regen, bewusst widersprüchlich, zum Grübeln an. Die Legende besagt, dass Kurt damals gegen eine Veröffentlichung gewesen war, da das heute weltberühmte Gitarrenriff frappierend nach dem Song Eighties der britischen Band Killing Joke klang. Auch die Simpsons konnten sich Jahre später einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen (Episode “That 90s Show“, hier der Gag bei 1:05 Minute). Alive auf der anderen Seite ist der Prototyp des perfekten Rocksongs. Dazu der (teilweise!) autobiographische und sehr bildhafte Text und eines der ekstatischsten Gitarrensoli in der Rockmusik ever. Da hat sogar die Hühnerpelle Hühnerpelle! Punkt für Ten. 1:2

Sagte ich schon, dass ich dieses Solo liebe? Danke Mike! Ab 3:44 bis zum Ende…

Runde 4: Breed vs. Why Go

Verdammt nochmal, was ist das bitte für ein geiles Gitarrenriff in Breed? Und dazu Daves ekstatischer Trommelwirbel (Nevermind ohnehin Das Trommelwirbel-Album). Verdammt nochmal, was ist das für ein geiles Solo in Why Go, dazu Bass und Drums in perfektem Einklang? Verdammt nochmal, warum hatte ich bloß diese Idee eines Boxkampfes? Aber Why go home? Hintertürchen, Unentschieden. Punkt für beide: 2:3

Runde 5: Lithium vs. Black

Black ist eine zeitlose Ballade mit wunderschöner Melodie, die Pearl Jam damals als so stark und zugleich verletzlich eingeschätzt hat, dass die Band sie aus Kommerzgründen bewusst gerade nicht zur Single gemacht hat. Eddie: “Some songs, just aren’t meant to be played between Hit No. 2 and Hit No. 3 [….]  those fragile songs get crushed by the business. I don’t want to be a part of it. I don’t think the band wants to be part of it.” Starkes Statement. Lithium vereint rockigen Refrain mit ruhigeren Strophen. Jahrelang von mir selbst auf der Gitarre rauf und runter gespielt und mit der Band gecovert. Ob in Zerlegung oder als Power-Chords: Das Riff macht einfach Spaß! Aber gegen Black gewinnen? Mammutaufgabe, daher: 2:4

Runde 6: Polly vs. Jeremy

Polly, Nirvanas erster puristischer Akustiksong auf einem Studioalbum, handelt von einer wahren Begebenheit: Die Entführung und Vergewaltigung einer 14-Jährigen in Tacoma. Kurts kratziges Timbre ist unvergleichlich. Am Drumset ist hier übrigens nicht Dave Grohl, sondern noch Bleach-Drummer Chad Cahnning zu hören. Jeremy ist einer der wichtigsten Pearl Jam Songs. Charakteristisches Bass-Intro und ein ebenfalls ganz düsteres Songthema: Jeremy, ein gemobbter Jugendlicher, erschießt sich im Klassenzimmer (Details dazu ganz unten bei den Sidefacts). Man kann die Verzweiflung in der Musik und in Eddies Stimme förmlich spüren. Ten vor Nevermind. 2:5

Runde 7: Territorial Pissings vs. Oceans

Ein Duell, wie es unterschiedlicher kaum sein könnte. Territorial Pissings schießt uns mit ultraverzerrter Gitarre die Falten aus dem Hemd, während Oceans als mystisch nachdenkliche Ballade über Ozeane und Surfbretter (und wahlweise lt. Eddie über Beth Liebling) mir auch sehr sympathisch ist. Dennoch: Territorial Pissings rockt mehr als dass mich Oceans berührt. 3:5

Runde 8: Drain you vs. Porch  

Nach Runde 1 hier mal wieder eine relativ klare Angelegenheit für Nevermind: Drain you hat einen fantastischen Ohrwurmcharakter, was Kurt vermutlich eher gewurmt als gefreut hat. Es geht um Liebe, vielleicht wird hier die Trennung von Tobi Vail (siehe Side Facts unten) thematisiert. Ganz klar ist das nicht, sind Kurts Lyrics im Gegensatz zu Eddies doch meist stark chiffriert. Krist in einem Interview nach Kurts Tod dazu: „Kurt said that he never liked literal things. He liked cryptic things.“ In Porch haben wir so eine musikalische Schnelligkeit, dass Eddie (fast) das Rappen anfängt. Guter Song, aber nicht gut genug: Nevermind platziert einen wuchtigen linken Haken – 4:5

Runde 9: Lounge Act vs. Garden:
Krists genialer Basslauf und wütender Kurt treffen auf unterschätzten Pearl Jam Song: „I will walk with my hands bound, I will walk with my face blood, I will walk with my shadow flag, into your garden… Garden of stone!” Subtiler Anti-Kriegssong (meine Interpretation, ohne Gewähr!) mit Gänsehaut-Text, Mitgröl-Refrain und einmal mehr einer unvergleichlichen Stimme! Aber wer so schön und inbrünstig: „Truth, covered in Security!“ schreit hat das Momentum auf seiner Seite. Knapper Sieg für Nevermind, Ausgleich: 5:5

Runde 10: Stay Away vs. Deep

Ein weiteres Rockbrett vom Feinsten, das eigentlich nicht Stay Away, sondern Pay to Play heißen sollte. Die “lapidare“ Textzeile „Every line ends in a rhyme“ ist bei näherer Betrachtung genial, nimmt Kurt hier (vermutlich) die Berechenbarkeit der Menschen auf die Schippe. Der Song hat wie so oft bei Nirvana eine einfache, wiederholende Songstruktur. Deep hingegen lebt von seinem verrückten ¾ Beat. Die gesamte Nummer erinnert mich immer an das Dr. Jekyll / Mr. Hyde Thema. Dennoch für mich der (wohl?!) schwächste Song auf Ten, was einiges über das Gesamtniveau aussagt. Nevermind hat einen Lauf, gewinnt die letzten vier Runden am Stück und führt plötzlich 6:5.

Runde 11: On a Plain vs. Release

Der Nevermind-Song “aus der zweiten Reihe“, richtig geile Nummer, Mitsing-Melodie, vielfach unterschätzt. Release ist ein sehr dröhnender und zugleich tief fragiler Song, Thema: Eddies Beziehung zu seinem leiblichen Vater. Denn erst nach dessen Tod erfuhr Eddie, dass er sein Vater gewesen war. Wenn er voller Verzweiflung singt: „Oh, dear dad, Can you see me now?, I am myself like you somehow… […] Release me!“ , ist ein dicker Kloß im Hals vorprogrammiert. Die Macht von Text und Musik. Enges Höschen, aber Ten gleich aus: 6:6

leider war keine Live-Version rechtlich verfügbar

Runde 12: Something in the way vs. Dirty Frank

Alles oder nichts, Do or Die in der allerletzten Runde. Okay, zugegeben, hier vielleicht ein etwas unfaires Match: Offizieller Song gegen Hidden Track. Der schmutzige Frank hat Stil. Auf Tour mit den Red Hot Chili Peppers, alberten die Bands herum, ihr Fahrer Frank wäre ein Serien-Killer. So entstand dieser Song. Musikalisch hört man hier extrem die genannten RHCP heraus: Sehr funky, „Give it away“ Vibes überall. Gute Nummer. Trotzdem: Gegen das atmosphärisch dichte Something in the way hat selbst ein Serienmörder-Busfahrer keine Chance. Produzent (und Garbage-Drummer) Butch Vig entschied, dass dieser Song ganz pur hauptsächlich nur mit Gitarre und Kurts gebrechlichem Gesang eingespielt werden solle (Dave setzt zwar im Refrain auch ein, aber nur rudimentär). Ein weiser Entschluss: 7:6. Ende. Das letzte Mal ertönt die Glocke. Beide Kontrahenten sind platt! Und wir auch!

Musikgeschichte!

Fazit:
Beide Alben kommen hoch motiviert aus der Kabine. Vor allem ab Runde 2 brennt Ten ein veritables Feuerwerk ab. Nevermind zeigt jedoch Nehmerqualitäten und lässt sich einfach nicht auf die Bretter schicken. Das Durchhaltevermögen wird belohnt und so kann Nevermind mit zunehmender Kampfdauer das Momentum shiften. Ten lässt sich tatsächlich noch die Marmelade von der Perle nehmen (oder so?!). Ein spannender Kampf bis in die letzte Runde auf allerhöchstem musikalischen Niveau, den Nevermind heute knapp gewinnt (Gott sei Dank kein Unentschieden, ich hasse Unentschieden!). So oder so: Meiser(werke) in ihrer eigenen Liga! Für mich, als Kind der Neunziger, zwei der stärksten Rockalben, die je geschrieben wurden.

Schön, dass ihr live dabei wart, schaut gerne noch unten in die Sidefacts. Und ansonsten vielleicht bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt:
Let’s get ready to rumble! Wie wäre es zum Beispiel mit Bleach vs. Vs.?! => Riesen Gag! 🙂

Sidefacts zu beiden Alben:

Nevermind:
Fast wäre ein weibliches Baby auf dem Cover von Nevermind erschienen, aber das Label intervenierte: „We want the d****!“ So wurde es der kleine Spencer Elden, beim Shooting vier Monate alt, heute demnach wie das Album 30 Jahre. Und so sieht er aus:

Elden: “Everyone out there in the world has already seen my penis.”

MC Lars & Mega Ran übrigens haben das legendäre Cover im Jahr 2019 auf sehr interessante Art persifliert (Song „Jabberwocky“ vom Album „The Dewey Decibel System“):

Auch interessant: Die Band – also Nirvana jetzt – wurde aus ihrer eigenen Record Release Party im Re-bar (Seattle) rausgeschmissen, weil sie sich nicht benehmen konnte. Wenn das nicht grungy ist.

Der Titel zu Smells like Teen Spirit ist auf Kathleen Hanna von Bikini Kill zurückzuführen. Sie hatte damals, um Kurt zu ärgern, an dessen Schlafzimmerwand die Zeile Kurt smells like Teen Spirit gesprüht. Kurt fand das cool, sah einen tieferen Sinn in den Worten und ließ sich inspirieren. Gemeint war allerdings das gleichnamige, süßblumig riechende Teeny-Deodorant, welches Kurts Freundin, die Bikini Kill Schlagzeugerin Tobi Vail, damals offenbar verwendete.

Der Arbeitstitel des Albums war „Sheep“, ein Insider-Witz der Band. Er beruhte auf der Vermutung, die Massen würden nach Veröffentlichung wie Schafe zu dem Album strömen. Es waren dann ~30 Millionen Schafe und die Band hatte Recht behalten. Hier ist auch eins: Määäh!

Ten:
Zum legendären Alive-Solo: Eigentlich war es viel kürzer, doch der britische Ton Ingenieur Tim Palmer überredete Mike McCready, ein längeres Solo zu spielen, um das Ende des Liedes so zu veredeln.

Im Song „Oceans“ verwendete Palmer Pfefferstreuer und Feuerlöscher als Percussion.

Die bereits erwähnte „Mamasan“-Trilogie (siehe Runde 1) wird auch als Mini-Oper bezeichnet, die einen jungen Mann thematisiert, dessen Vater stirbt (Alive). Danach begeht er einen Amoklauf (Once), was abschließend in seiner Exekution resultiert (Footsteps). Krasser Scheiß!

Mike McCready über „Even Flow“: „Wir haben „Even Flow“ etwa 50, 70 Mal eingespielt. Es war ein Albtraum. Wir haben das Ding immer und immer wieder gespielt, bis wir uns gegenseitig gehasst haben. Ich glaube, Stone ist immer noch nicht zufrieden mit dem Endergebnis.“

Der großartige Song „Yellow Ledbetter“ wurde eigentlich auch für Ten geschrieben, schaffte es aber, wie einige andere, nicht auf das Album. Dafür ist es nun auf dem B-Seiten-Doppelalbum „Lost Dogs“ zu hören.

In dem Song „Jeremy“ geht es konkret um den 15-jährigen Jeremy Wade Delle, der sich am 8. Januar 1991 in der Schule vor seinen Klassenkameraden und der Lehrerin erschoss. Er war Opfer von Mobbing gewesen. Eddie Vedder: „Du [Jeremy] bringst so ein großes Opfer, um dich zu rächen. Aber alles, was du bekommst, ist ein kleiner Artikel in der Zeitung. Und nichts ändert sich, nichts. Die beste Rache liegt immer noch darin, weiterzuleben und stärker zu sein als diese Leute.“ Eddie wollte mit dem Song bewirken, dass Jeremny und das Resulat von Mobbing nicht so schnell wieder in Vergessenheit gerät. Für die Familie war die Berühmtheit und der Erfolg des Liedes – gerade in Verbindung mit dem echten Namen – auch belastend gewesen.

* ja, beide Einlauf-Titel sind nicht auf dem jeweiligen Album zu finden. Ich habe einfach überlegt, welche Songs der Bands gut geeignet wären, um kraftvoll und überzeugend in den Ring zu marschieren. Ich habe mich für diese Rockbretter entschieden.