Porcupine Tree – Closure/Continuation (2022)

von Alex

Wenn ich in der Vergangenheit die britischen Progrock-Pioniere Porcupine Tree gehört habe, wurde ich binnen Minuten an die Welt der Whiskeys erinnert. Genauer gesagt an die geschmacklichen Unterschiede zwischen einem zarten Einstiegs Single Malt wie Glennfiddich oder Aberfeldy auf der einen Seite und den rauchigen bis torfigen Noten eines Laphroaig oder Ardbeg Uigeadail auf der anderen. Denn vergleicht man einen Aberfeldy mit Bands wie den Foo Fighters, Green Day oder gar Rammstein, die allesamt den Rockgeschmack von unzähligen Menschen punktgenau und spielend leicht treffen, sind Porcupine Tree eher ein Octomore von Bruichladdich – extrem andersartig und wahrlich nicht für jeden Gaumen bzw. für jedes Trommelfell geeignet. Und das meine ich für beide Seiten der Skala überhaupt nicht wertend: Leckere Spirituosen bzw. gute Musik ist alles. Weder das eine, noch das andere ist irgendwie „besser“. Porcupine Tree sind schlicht, wie der Amerikaner so schön sagt, a different kind of animal. Das muss dem Hörer / der Hörerin vorher klar sein.

Nun haben die Engländer knapp 13 Jahre nach dem letzten Album und zwölf Jahre nach ihrer Auflösung überraschend und in Prog-Kreisen viel umjubelt ein neues Album veröffentlicht. Dieses Mal bloß zu dritt: Komponist, Sänger und Gitarrist Steven Wilson, Drummer Gavin Harrison und Keyboarder Richard Barbieri. Bassist Colin Edwin ist nicht dabei. Auf Nachfrage offenbarte er: „Im März 2021 bekam ich eine E-Mail von Steve, in der er mir mitteilte, dass es ein neues Album gibt und da er bereits alle Bassparts eingespielt hatte, gibt es keine Rolle für mich.“ Lassen wir das mal so stehen.

Everybody: „Rock is dead!“ – Steven Wilson: „Hold my beer!”
Das Album beginnt mit der 8-Minuten-Nummer Harridan und diese lässt mich sprachlos zurück. Bereits als Vorab-Single und Appetizer im November 2021 veröffentlicht, ist es, als wären Porcupine Tree nie weg gewesen. So frisch kann Rockmusik heute klingen! Ein sensationell groovendes Bassriff im Up-Tempo ergießt sich ins Nichts, ehe Gavin Harrison sich und sein Instrument als kantigen, aber extrem präzisen Tanzpartner anbietet, akzentuiert durch Barbieris Keys. Die Platte ist erst Sekunden alt und das wilde Kopfnicken zwischen verzweifeltem Taktzählen beginnt. Es folgt Wilsons Stimme, erst im Flüstertüten-Style, später im unnachahmlichen Melodyfinding-Modus. Harridan entwickelt sich zur Audioversion eines atemraubenden Arthouse Krimis – mit Happy End; trotz schließendem Moll-Akkord:

Faszinierend wie nonchalant Wilson und Co. zwischen den musikalischen Welten wandeln – von Depeche Mode-Anleihen in Walk the Plank hin zu treibenden Soundgarden Refrains in Herd Culling -, ohne dabei auch nur ansatzweise die eigene Visitenkarte aus der Hand zu geben:

Und auch in dem neun Minuten Drama Chimeras Wreck – gewissermaßen drei Songs in einem – steckt ganz viel großraumige Detailverliebtheit. Hier wird sich Zeit genommen. Wie eine Blume, die ihre Blüte gen Sonne streckt und öffnet, so entwickelt sich der Song zusehends und der empirische Porcupine Tree Botaniker wird für seine Geduld mehr als belohnt. Nach vier Minuten zieht die Nummer spürbar an, bis schließlich ein schickes Wah Wah Gitarrensolo zum großen Finale wiggelt. Nach 48 Minuten Laufzeit ist dann alles vorbei.

Bonustracks
Alles vorbei? Nicht unbedingt. Denn es gibt – wie inzwischen üblich – nicht nur die Standard Edition des Albums, sondern auch die Deluxe Bonus Edition, die mit drei Songs – und knapp 18 Minuten – mehr aufwartet. Hier sticht vor allem das instrumentale Arrangement Population Three heraus. Das Trio ist hier – wie auf dem gesamten Album – auf natürlichste Weise extrem homogen und spielfreudig. Wilson und Harrison sind die Fliesen, Barbieri der Fugenmörtel.

Wunderbare Lyrics
Allgemein gilt zu konstatieren, dass die Texte – Wilson-typisch – wieder in der Lage sind, Bilder im Kopf zu erzeugen, Geschichten zu erzählen. Und auch heikle Themen anzupacken. Bei der aktuellen Singleauskopplung Rats Return dachte ich zunächst, sie selbst wären die zurückkehrenden Ratten, aber achten wir auf den Text, wird klar, es geht um Politik. Um die Rückkehr der Diktatoren: Namen wie Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko, Kim Jong-un, Xi Jinping (oder ihre afrikanischen Pendants) finden alle zwar nicht statt. Dafür aber – wohl als Platzhalter – ein paar „alte Bekannte“: Dschingis Khan, Augusto Pinochet, Mao Tse-tung, Kim Il-sung, die stellvertretend für die neue, unerwähnte Jahrgangsklasse herhalten müssen:

Leave your principles at the door
Spare me
Purge your guilt for the nameless hoards
Thrill me, you clown

Dazu: Heute lebt weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Art Demokratie – und sogar nur 6,4% in einer „vollständigen“ Demokratie (Deutschland zählt nicht dazu!), Tendenz fallend. Über ein Drittel der Erdenbürger lebt inzwischen in einer Diktatur/einem autoritären Regime (Quelle: Economist Intelligence Unit). Deutschland belegt im Demokratieindex “nur“ Platz 15 – zwischen Luxemburg und Südkorea. Ein kleiner Exkurs aus Interesse des Autors, verzeiht.

Zurück zu Arthouse Krimis: Rats Return erinnert musikalisch extrem an einen David Lynch Film: Verstörend, unheimlich, faszinierend. Und das Video unterstreicht diesen Effekt – doppelt:

Was gefällt mir nicht?
Abzüge in der B-Note gibt es von mir, da ich mir die Rückkehr der Progger insgesamt rockiger gewünscht hätte. Die sphärischen und ruhigen Parts bilden zwar einen passenden und vertraut klingenden Spannungsbogen und Kontrast zu den Rockparts, aber sie verschleppen stellenweise das Grundtempo. Selbst wenn ich grundsätzlich ein großer Freund von Wilsons Ansatz der „natürlichen Tempoanpassung“ bin (siehe hier). Auch die vermeintliche Ausbootung von Bassist Colin Edwin, erschließt sich mir (als Außenstehender) nicht. Ab September ist das Trio auf Tour (auch drei Deutschlandtermine stehen auf dem Programm) und da selbst Mastermind Wilson kaum Gitarre und Bass gleichzeitig spielen kann, steht dann eben nicht der altbekannte Edwin, sondern Nate Navarro (nein, nicht Dave Navarro) auf der Bühne. Wer weiß, was dahinter steckt.

Kaufempfehlung?
Am Ende meiner Rezension möchte ich nochmals den Bogen zum Einstieg spannen: Denn dieses Album kann ich uneingeschränkt jedem musikalischen Octomore-Sympathisanten ans Herz legen. Neben Musik, Text und Stimme ist auch die Produktion tadellos und ein Ohrenschmaus, jeder Kuppelschlag ist kristallklar und perfekt gesetzt (Harrisons Leistung ist ohnehin absolutes Toplevel!): 8/10 Wellenbrecher. Komm, schenk mir ein!

Musikalische Aberfeldy-Fans sollten aber die Finger davon lassen.