In unserer letzten Folge haben wir uns und euch gefragt, wann das (musikalische) Handwerk zu Kunst evolutioniert (höre überall im Stream oder hier). Heute folgt dazu unser Dreckiges Dutzend. Aber keine Sorge: Es geht nicht um ganz besonders künstlerisch wertvolle Musik: „Das Lamm schreit… Hurz!“ Schließlich wollen wir für euch eine hörbare Playlist auf YouTube zusammenstellen. Deshalb haben wir uns – zumindest in indirekter Anlehnung an das letzte Leitthema – entschieden, Songs von Bands und Musiker*innen vorzustellen, die aufgrund ihrer Klasse deutlich bekannter sein sollten, als sie es sind (sogenannte „Schattensongs“). Dies können Werke von Bands sein, die ihrerseits selbst auch mehr Rampenlicht verdient hätten, das können aber genauso gut Bands sein, die zwar (welt)berühmt sind, aber einzelne Stücke eben zu Unrecht nicht. Also, hört rein, welche 4×3 Tracks wir ausgesucht haben und warum und checkt unbedingt auch die korrespondierende Playlist auf YouTube (oder weiter unten – bitte runterscrollen).
Eines meiner absoluten Lieblingszitate stammt vom britischen Schriftsteller Oscar Wilde und wurde selbstredend in unserem Podcast bereits fallengelassen: „Mit 90% aller Menschen nicht übereinzustimmen, ist eines der wichtigsten Anzeichen für geistige Gesundheit.“ Und nein, diese Aussage soll nicht als Freifahrtschein für Querdenker und Verschwörungstheoretiker verstanden werden, sondern als ein Appell gegen stumpfes Schwarmverhalten. „Das machen doch alle so!“ „Das haben wir immer schon so gemacht!“ Nun kam mir vor Kurzem Wildes Roman in die Finger, den ich immer schon mal lesen wollte:
Inhalt Da wir hier nun kein Literatur-, sondern ein Musikblog sind, fasse ich mich bei der Inhaltsangabe kurz: Wir sind im London des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Die Handlung dreht sich – wie der Name schon sagt – um einen jungen, gut aussehenden Dandy namens Dorian Gray, der sich von seinem Freund Basil Hallward malen lässt. Es wird dessen bestes Werk. Während der Sitzungen lernt Gray einen weiteren Freund Hallwards kennen: Lord Henry Wotton. Dieser ist über alle Maßen zynisch und hat ein fragwürdiges Menschenbild. Er wird im Laufe des Buchs mehr und mehr Grays “Souffleur“. Seine Charakterzüge verändern sich zum Schlechten. Gray wird hartherzig und kalt.
Die Eskapaden nehmen sukzessive immer groteskere Formen an (inkl. Leichenbeseitigung im Stile von Breaking Bad; hat Vince Gilligan auch das Buch gelesen?). Jedoch stellt Gray zu seiner großen Verwunderung fest, dass sein im Scherz ausgesprochener Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Er selbst bleibt trotz aller Fehltritte jugendhaft und schön, während das gemalte Porträt stattseiner altert. Zudem manifestieren sich sämtliche Charakterschwächen im dem Bildnis auf grausame Weise. Wir verflogen voller Verärgerung wie sich Dorian Gray immer wieder mit mehr Glück als Verstand ungeschoren aus den unangenehmsten Situationen herauslaviert – bis zum großen Finale!
Es ist absolut bemerkenswert, wie hoch die Dichte an zitierwürdigen Sätzen in diesem Buch ist. Die Dialoge sind messerscharf und meist vor Zynismus triefend (wie gesagt: Lord Henry). Am bekanntesten ist sicherlich der Ausspruch Lord Henrys in Kapitel 4, weniger zynisch: „Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert“ (das war offenbar schon Ende des 19. Jahrhunderts der Fall!) . Aber da wären auch weitere Bonmots, die ich als Schmankerl ans Ende des Artikels gepackt habe.
Die Parallele zur Musik Josef K., Muff Potter (lese auch hier), The Boo Radleys, Veruca Salt… – wie ich bereits in meinem ersten Artikel zum Thema „Musik in der Literatur“ geschrieben habe, gibt es unzählige Bands, die nach Buchcharakteren benannt wurden. So auch bei Dorian Gray: Die Rockband aus den 80ern kam aus dem damaligen Jugoslawien und erlangte einige Bekanntheit durch ihren extravaganten Stil.
Viel interessanter fand ich bei meiner Recherche allerdings eine andere brandaktuelle Band, die schon als Support für Garbage und Placebo spielte und die den Namen des heimlichen Stars des Buches ehrt: Sibyl Vane! In Wildes Geschichte ist sie eine junge, unschuldig reine Schauspielerin, der Dorian Gray verfallen ist. Immer wieder geht er ins Theater, nur um sie spielen zu sehen. Schließlich wollen die beiden, trotz Warnungen von Sibyls Bruder, heiraten. Bevor es dazu kommt, fühlt sich Gray, der schon unter dem Einfluss Lord Henrys steht, absurderweise von ihr gedemütigt und er verlässt sie auf brutale Art und Weise, was weitere Tragödien auslöst (keine Spoiler!).
Nun hat sich die junge Postpunk-Band aus dem Estländischen Pernau den Namen der Schauspielerin nicht „einfach nur so“ gegeben, um vielleicht besonders bedeutungsvoll zu wirken. Wie Sängerin und Gitarristin Helena Randlaht dem Wellenbrecherbereich unlängst verriet, gab es vielschichtige Gründe:
„First we really liked the idea of a band name that is named after a real person or a character and second is that The Picture of Dorian Gray is one of our favorite books. Name Sibyl Vane sounded really exotic for us and also represented that fourth band mate (really there are 3 of us) – with Sibyl Vane there are two men [Kristo Otter: Drums, Heiko Leesment: Bass]and two women in a band – one is fictional … but still.“ Helena Randlaht im Austausch mit dem Wellenbrecherbereich
Und selbst wenn der letzte Grund etwas zum Schmunzeln anregt, so hat die Parität, die Gleichberechtigung, die hier mitschwingt, einen ernsten (Hinter)grund:
„I think we strive for that tragic female character vibes from The Picture of Dorian Gray and what it is like to be a woman in this world. And we carry that sadness and injustice into our lyrics. But we also get inspired by other authors and books as well like The God of Small Things by Arundhati Roy, The Girls by Emma Cline, The Collector by John Fowles etc.“ Helena Randlaht im Austausch mit dem Wellenbrecherbereich
Kampf gegen verkrustete Strukturen Über strukturelle Gewalt gegen Frauen in männerzentrierten Gesellschaftsstrukturen muss und soll zwar auch vor der eigenen Haustür gekehrt werden – sprich bei uns in Deutschland – Themen wie Gender Pay Gap, berufliche (Aufstiegs)Chancen, veraltete Rollenbilder und Verhaltensannahmen seien zu nennen. Doch die Band richtet ihren Blick vor allem auf die baltische Heimat, in der die systematische Unterdrückung von Frauen noch deutlich dramatischer und gewalttätiger zu spüren ist. Natürlich muss man gerade heute unweigerlich auch an die mutigen Mädchen und Frauen im Iran denken. Sibyl Vane dient als Mahnmal gegen antiquierte Machtstrukturen und Denkmuster, die es beharrlich aufzubrechen gilt („das haben wir immer schon so gemacht!“).
Somit wäre Helena Randlaht samt Band natürlich die perfekte Wahl auch für unseren Genuary gewesen. Doch es musste erst Oscar Wilde um die Ecke kommen, der mich auf diese Band brachte. Anfang 2022 trat Sibyl Vane bei der Botik Live Session auf und gab ein Online-Konzert zur Unterstützung des “Pärnu Women’s Support Centre“:
Postpunk trifft Indieblues Im letzten Jahr haben Sibyl Vane ihr Debütalbum Love, Holy Water and TV zum 10-jährigen Jubiläum neu aufgelegt – erstmals auch auf Vinyl. Und während uns sowohl jenes Album, als auch der selftitled Nachfolger musikalisch eine amtliche Portion Härte entgegenschleudert und gesanglich an eine junge Gwen Stefani erinnern lässt,
geht die Band seit dem Drittling Duchess (Herzogin) in die popbluesige Ecke mit Indieeinflüssen. Dabei fühlt sich Randlahts Stimme in beiden Gefilden zuhause. Von der Bruststimme zur Kopfstimme: Die Vorabsingle zum Album, das 2020 für das Album of the Year bei den Estonian Music Awards nominiert war, ließ erahnen, wohin die Reise künftig geht (Vorsicht, Ohrwurmgefahr!):
Derzeit, so verriet uns Randlaht, wird eifrig an neuem Material gewerkelt. Die aktuelle Single Hertsoginna (auch Herzogin!) – aufgenommen zusammen mit der Musikerin Kaisa Ling Thing wurde passend zum Weltfrauentag am 8. März veröffentlicht. Gesungen wird zur Abwechslung auf Estnisch, über der Musik flirrt dezent baltischer Charme. Auf ein neues Album bin ich gespannt.
Die letzten Worte aber sollen Sibyl Vane selbst gehören, wenn sie im Buch offenbart:
The painted scenes were my world. I knew nothing but shadows and I thought them real. […] Tonight, for the first time in my life, I saw through the hollowness, the sham, the silliness of the empty pageant in which I had always played. Sibyl Vane
Einige Zitate aus Das Bildnis des Dorian Gray „Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist ihr nachzugeben.“ „Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten.“ „[Auf dem Lande] steht man so früh auf, weil man so viel zu tun hat, und legt sich so früh zu Bett, weil man so wenig zu denken hat.“ „Ich wähle meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem Charakter und meine Feinde nach ihrem Verstand.“ „Die Frauen, hat einmal ein witziger Franzose gesagt, regen uns an, Meisterwerke zu schaffen, und hindern uns immer daran, sie auszuführen.“ „Jemanden zu beeinflussen bedeutet, ihm eine fremde Seele zu geben.“ „Anfangs lieben Kinder ihre Eltern; wenn sie älter werden, halten sie Gericht über sie; manchmal verzeihen sie ihnen.“ „Genie währt länger als Schönheit.“
„Die Kunst aber ist kein Handwerk, sondern Vermittlung von Gefühlen, die der Künstler empfunden hat“, sagte der russische Schriftsteller Lew Tolstoi und das ist sicher richtig. Auf der anderen Seite ist das Erlenen und Spielen eines Instruments zunächst mal ein Handwerk. Wann also gelangen Musiker*innen zur Schwelle vom Handwerk zur Kunst? Schon beim Covern? Beim Um-Arrangieren? Oder erst mit dem Komponieren eigener Songs? Sind Neukompositionen immer gleich Kunst? Und wer soll das eigentlich entscheiden? Und was um Himmelswillen haben die Waschräume in Bozen, Senf, Smudo und Dieter Bohlen mit alledem zu tun? Ein spannendes Thema, bei dem es sicher keine allgemeingültige Antwort, dafür aber viele Theorien und Ansatzpunkte gibt. Hört rein und diskutiert über die Kommentarspalten bei YouTube, Instagram und facebook fleißig mit: Wann wird – in Bezug auf Musik – das Handwerk zur Kunst?
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